Morgen trauert Oxford
was ist mit ihm geschehen?«
»Er wurde mit Knüppeln zu Tode geprügelt. Anschließend wurde seine Leiche von einer Horde Lehrlinge aus der Stadt in Stücke gerissen.«
»Du meine Güte! Wann war denn das?«
»Am zwanzigsten Oktober 1527«, antwortete das Mädchen.
»Na, dann ist es doch längst vergeben und vergessen«, meinte Kate.
»Von wegen«, widersprach das Mädchen. »Zur Strafe wurde dem Leicester College der bronzene Türklopfer weggenommen. Ich glaube, der Bischof von Lincoln nagelte ihn an die Wand des Stiftshauses, wo er immer dann betätigt wurde, wenn jemand Zuflucht suchte. Hätte das Leicester den Jungen eingelassen und ihm Zuflucht gewährt, wäre er gerettet gewesen. Und seither darf am Jahrestag seines Todes – sozusagen als Buße – jeder ordentlich gekleidete Student, der sich als Mitglied des Bartlemas College ausweisen kann, Einlass im Leicester College verlangen. Drinnen bekommt er das so genannte Mourning Ale, ein Bier, das eigens zu diesem Zweck gebraut wird.«
»Ah«, sagte Kate, die endlich das Wort begriff, das man ihr ständig genannt hatte. »Mourning wie Trauer, und Ale wie Bier. Trauer-Bier. Jetzt verstehe ich.«
Die Studentinnen hatten inzwischen ihre Biergläser geleert und nickten.
»Aber wie beweist man die Mitgliedschaft im Bartlemas College?«, erkundigte sich Kate mit einem begehrlichen Blick auf die Hüte und Roben der Studentinnen.
»Mit einem Brief des Studienleiters.«
»Und wie sieht es zurzeit finanziell bei euch aus?«, fragte Kate. »Ist eine von euch schon pleite und hat Lust, sich auf die Schnelle fünf Pfund zu verdienen?«
»Einen Fünfer für jede von uns, wenn Sie schon so scharf drauf sind«, sagte die erste Studentin, die längst Kates Kostüm und Bluse taxiert hatte. »Fünf Pfund für die Robe, fünf für das Barett und noch mal fünf für den Brief des Studienleiters. Schade um das Loch in Ihrer Strumpfhose, aber wahrscheinlich wird niemand drauf achten.«
»Für das Geld will ich aber einen Graduierten-Talar«, brummte Kate, »und nicht den eines gewöhnlichen Studenten.«
»Dann brauchen Sie meinen«, sagte ein Mädchen mit Kaninchenzähnen und Schuppen.
»Von mir können Sie den Brief haben«, erklärte die Rothaarige.
»Hier ist mein Barett«, sagte die erste.
Kate wurde in eine knielange Robe mit Ärmeln gehüllt, ein Mädchen drückte ihr ein Barett auf den Kopf und ein anderes einen schon etwas fleckigen und zerknitterten Brief in die Hand.
»Meine Krawatte kriegen Sie für lau«, sagte die Briefeignerin, schlang Kate den schwarzen Schlips um den Hals und knüpfte geschickt einen Knoten unter dem Kragen.
»Danke«, sagte Kate. »Ich bringe euch mein Mourning Ale mit, falls ich welches bekomme.«
»Wir sind bestimmt noch eine Weile hier«, grinste der Rotschopf. »Wir lassen uns gerade einen Karton Wein besorgen. Mark ist sicher gleich damit zurück. Wenn Sie uns suchen: Wir sitzen da drüben auf der Mauer.«
»Falls ich überhaupt reinkomme«, unkte Kate. »Ach übrigens«, rief sie hinter den Mädchen her, die sich anschickten, die Straße zu überqueren, »was studiere ich eigentlich?«
» Literae Humaniores «, war die Antwort.
Was zum Teufel mochte das sein? Kate hatte nicht den leisesten Schimmer.
Mutig warf sie sich in die Menschenmenge, die sich vor dem Pförtnerhaus tummelte. Mit einer Hand hielt sie das Barett auf dem Kopf fest, mit der anderen umklammerte sie den Brief. Im Eingangsbereich stand ein dünnes, blasses Mädchen mit dunklen Augenringen. Sie trug ein weißes Kleid. Sie schien ebenso dringend wie Kate ins College zu wollen, doch gegen den hartherzigen Pförtner hatte sie keine Chance.
»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er zu ihr, »eigentlich dürfte ich nicht einmal mit Ihnen reden, solange Sie nicht in Akademiker-Robe vor mir stehen. Heute ist Mourning Ale, wissen Sie.«
»Ich muss unbedingt jemanden besuchen«, antwortete sie. »Gibt es keinen anderen Weg hinein?«
Sie tat Kate Leid. Das Mädchen zeigte nicht die geringste Eigeninitiative, und so, wie sie angezogen war, würde sie nie ins College kommen.
»Es gibt noch eine Tür nur für Professoren«, flüsterte Kate ihr zu, nachdem der Pförtner sich abgewandt hatte. »Allerdings brauchen Sie einen Schlüssel.«
In diesem Augenblick blickte das Mädchen sie an, und als sie die Hoffnungslosigkeit in den überraschend blauen Augen sah, erkannte Kate sie wieder. Die leere Seele. Das Mädchen, das von dem jungen Mann herumkommandiert worden war, der
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