Morgen trauert Oxford
bringen konnte. Mit knappen Bewegungen stellten sie sich wie eine Wache rechts und links von dem Mädchen auf, das sie Angel nannten.
»Das ist nicht nötig. Wir kümmern uns um sie«, erklärte der Bettler. »Machen Sie sich keine Sorgen um sie. Sie gehört zu uns.« Er hatte eine Hand über dem Ellbogen um Angels Arm gelegt.
»He! Was ist mit Angel los? Was machen Sie da?« Der letzte Satz war an Kate gerichtet und kam von einem jungen Mann mit dunklem Lockenkopf, einem sehr roten Gesicht und schlechter Haut.
»Immer mit der Ruhe, Dime«, sagte der Bettler vom Sheldonian Theatre. »Angel geht es gut. Ihr war nur ein wenig schwindelig, und die Dame kam ihr zu Hilfe.« Er lächelte Kate an, doch seine Augen lächelten nicht mit.
»Was ist los mit ihr?«, hakte Kate nach. »Ist sie krank?« Am liebsten hätte sie gefragt, warum das Mädchen eine Puppe unter ihrer Jacke verbarg, aber wahrscheinlich hätte man ihr darauf nicht geantwortet.
»Sie isst nicht richtig«, erklärte der Bettler. »Und deshalb bekommt sie manchmal Schwächeanfälle.«
»Stimmt«, bestätigte Dime mit dem roten Gesicht. »Aber gleich gibt es Pizza. Komm, Angel, wir besorgen uns etwas zu essen.«
Kate wurde abgedrängt. Alle vier setzten sich in Bewegung. Angel wurde von zwei der jungen Männer gestützt. Doch Kate wollte unbedingt versuchen, den Kontakt zu diesem Mädchen aufrechtzuerhalten. Freundschaftlich berührte sie ihre Schulter.
»Geht es Ihnen wirklich und wahrhaftig gut?«, fragte sie. Und als sie sicher war, dass das Mädchen ihr Aufmerksamkeit schenkte, fügte sie hinzu: »Ich helfe gern, wenn ich kann.«
Das Gesicht der jungen Frau wirkte wieder verschlossen. Vor den drei jungen Männern würde sie bestimmt nichts sagen. Kate glaubte nicht, dass Angel Angst vor ihnen hatte oder dass man sie schlagen würde – trotzdem hatte sie den Eindruck, dass die Männer das Mädchen beaufsichtigten. Sie blieb stehen und sah ihnen stumm nach. Gut, dass sie es geschafft hatte, ihre Visitenkarte in die Tasche von Angels grüner Jacke gleiten zu lassen.
Ob sie verstanden hatte? Hatte sie die Karte wahrgenommen? Kurz bevor die kleine Gruppe um die Ecke der Catte Street bog, sah Kate, wie Angel ihre rechte Hand in die Tasche steckte und sich nach Kate umblickte. Kate wusste nicht recht, wie sie den Gesichtsausdruck der jungen Frau deuten sollte, doch auf jeden Fall war es nicht das leere Starren, das sie schon mehrfach bei ihr bemerkt hatte. Sie antwortete mit einem, wie sie hoffte, zuversichtlichen Lächeln, von dem sie nicht sicher war, ob es überhaupt bemerkt wurde.
Wer mochten diese Männer sein? Sie erinnerten Kate ein wenig an Figuren von Charles Dickens. Da war dieser große, spindeldürre Bettler, der aussah, als stünde er kurz vor dem Hungertod, der aber voller Energie über die Straße gesprintet war und Angel durchaus festgehalten hatte. Und dann der Straßenmusiker. Er hatte zwar kein einziges Wort gesagt, sich dafür aber ausgesprochen besitzergreifend gezeigt. In der Hand hielt er die Büchsen mit den Einnahmen der Truppe und einige Bündel; daher konnte er Angel nicht stützen. Aber er war so dicht an ihrer Seite gelaufen, als wolle er ihre Flucht verhindern. Schließlich war da noch der etwas einfach gestrickte Mensch mit dem roten Gesicht. Er war von allen der Besorgteste gewesen. Und der Besitzergreifendste. Und was war mit dem anderen, dem jungen Mann in Schwarz, der in das Geschäft am Ende der George Street eingebrochen war? Kate schätzte sich glücklich, dass er nicht dabei gewesen war, als sie Angel die Karte zusteckte. Kate glaubte nicht, dass sie ihn so leicht hätte täuschen können wie die anderen drei.
KAPITEL 7
Wir Professoren haben’s fein,
Wir dürfen wie die Fürsten sein
Und speisen Fleisch und feines Wild
Unter uns’res Gründers Bild.
Thomas Warton, 1728-90
K
ate ging nach unten in ihr Arbeitszimmer. Wenigstens dieses Mal wollte sie vernünftig sein. Sie würde die stibitzten Manuskripte durcharbeiten und sich genaue Notizen machen. Sie verfügte über Kopien aus einem Laden, wo niemand sich darum kümmerte, was man ihm in die Hand drückte. (Ganz im Gegensatz zu Mrs Clack in Fridesley, wo die Kopie zwar nur vier Pence kostete, die Kate aber unbarmherzig über jeden Auftrag ausfragte.) Und so bald wie möglich würde sie die Originale zurückbringen, am liebsten, ehe Olivia überhaupt bemerkte, dass sie fehlten. Morgen früh vielleicht – das dürfte wohl reichen. Vor allem, wenn sich
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