Morgen trauert Oxford
Kakaopulver.
»Das ist unser Angestellten-Kabuff«, erklärte Andrew. Er war ihr gefolgt. »Möchtest du eine Tasse Kakao? Ich wollte mir gerade selbst eine machen.«
Hinter der Anrichte führte eine weitere Wendeltreppe nach oben. Weniger verziert als die anderen, dafür mit festen Steinstufen.
»Nein, danke. Wo führt diese Treppe hin?« Da sie Ant nirgends im Lesesaal hatte entdecken können, konnte sie es ebenso gut weiter oben probieren.
»Zum Büro des Direktors. Ich hoffe, du willst nicht da hoch. Er genießt seine Brotzeit gern in Frieden. Außerdem liebt er es ganz und gar nicht, bei der Lektüre des neuesten Ruth-Rendell-Romans gestört zu werden.«
Kate tat, als hätte sie nichts gehört, und lief zielstrebig an dem altmodischen Schild mit der Aufschrift Privat- Nur für Personal vorbei die Treppe hoch.
Glücklicherweise saß der Krimifan nicht an seinem Schreibtisch. Kate schlüpfte an einer Zwischenwand vorbei und fand sich auf einer Art Balkon wieder, von dem aus sie den Lesesaal überblicken konnte. Über ihr wölbte sich die Kuppel der Camera mit ihrem Stuck, der an einen Hochzeitskuchen erinnerte. Gegenüber lag ein Säulengang und ein weiterer Balkon, der die Fortsetzung von dem war, auf dem sie stand.
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung. Sie strengte die Augen an. Ein dunkler Schatten huschte von rechts nach links, wobei er die Säulen als Deckung nutzte. Es war eine hoch gewachsene Gestalt mit einem Pferdeschwanz. Ant.
Hinter sich hörte sie ein Keuchen.
»Kate, ich muss darauf bestehen, dass du wieder hinuntergehst. Demnächst mache ich wirklich gern einmal einen Rundgang mit dir und zeige dir das ganze Gebäude, aber jetzt im Augenblick muss ich unten an meinem Platz bleiben. Genau genommen hätte ich ihn gar nicht verlassen dürfen.«
Aber Kate hatte keine Zeit für Argumente. Sie zeigte auf die Säulen, wo sie Ant entdeckt hatte, und fragte: »Was ist dahinter?«
»Die Treppe zum Dach.«
»Ist der Zugang verschlossen?«
»Sollte er eigentlich sein, aber ich habe mir eben Milch heruntergeholt. Sie bleibt auf der Treppe schön kühl. Es ist also durchaus möglich, dass ich vergessen habe …«
»Die Tür ist also offen, und Ant kann sie benutzt haben. Gibt es noch einen Weg nach da oben? Wo führt diese Tür hin?« Sie zeigte auf die Tür hinter sich.
»Dort geht es ebenfalls zum Dach. Die Aussicht ist einfach toll, aber es ist nur nach Vereinbarung und nur in Begleitung möglich, da hinaufzu … Kate! Was machst du da? Komm sofort zurück.«
Aber Kate war längst auf dem Weg nach oben. Sie hörte noch Andrews bestürzte Stimme hinter sich, als sie bereits durch eine Tür trat, die sich wie das Visier eines Helms ausnahm. Sie war auf dem Dach.
Rings unter ihr erstreckte sich die Stadt Oxford. Über ihr erhoben sich erleuchtete, goldene Fenster. Kate atmete tief durch und schloss die Augen. Warum passiert so etwas immer mir?, fragte sie sich. Wissen etwa alle, dass ich unter Höhenangst leide? Tun sie es absichtlich? Bei Wasser wäre es etwas ganz anderes. Vor Wasser habe ich nicht die geringste Angst. Ich kann tauchen und schwimmen, und es macht mir absolut nichts aus. Ich kann mich endlos lange über Wasser halten. Vorsichtig öffnete sie die Augen und konzentrierte sich auf das, was sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Zum Beispiel das mit Graffiti beschmierte Fenster rechts von ihr. Menschen hatten ihre Namen in das Glas geritzt, und zwar mindestens seit der Zeit der Französischen Revolution. Fiese Typen hatte jemand geschrieben. Wie wahr! In Frankreich rollten Köpfe unter der Guillotine, in Oxford ritzte man seinen Namen in Fensterscheiben.
Unmittelbar vor ihr stand ein Strebepfeiler, es gab einen schmalen Rundlauf, und zu ihrer Linken befand sich eine Balustrade, die mit riesigen, in Stein gehauenen Ananas auf geriffelten Untertellern dekoriert war.
So weit, so gut. Ihr war noch nicht allzu schwindlig. Vielleicht konnte sie ja doch einen Blick auf die Aussicht werfen.
Nach dem Regen hatte es aufgeklart, und der Mond stand fast voll am Himmel. Rings um Kate herum erstrahlten die architektonischen Meisterwerke Oxfords im Scheinwerferlicht. Das Dach der Bodleian, in hellem Apfelgrün, lag zu ihrer Linken und sah aus, als wäre es von angespitzten, aus weißem Stein gehauenen Selleriestauden umgeben. Nach einer Drehung um neunzig Grad befand sie sich Auge in Auge mit den beiden Türmen von All Souls.
Am liebsten hätte sie sich auf die Bleiplatten des, Daches
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