Morgen trauert Oxford
Geschwindigkeit, die er auf dem Weg zur Camera vorlegte. Der überdimensionierte Pfefferstreuer. Ein College, hatte Ant gemutmaßt, vielleicht auch eine Kirche. Kate hätte ihm sagen können, dass es sich um eine rund gebaute, dreigeschossige Bibliothek handelte.
Kate wechselte die Richtung und ging nun ebenfalls auf die Camera zu. Über den Zaun hätte sie in ihrem engen Rock sowieso nicht springen können. So schnell es eben ging, hastete sie um das Gebäude, lief den Weg entlang und betrat die Bibliothek. Dabei kramte sie in ihrer Handtasche nach der Zugangskarte zur Bodleian, doch an diesem Abend schien kein Pförtner Dienst zu haben. Drinnen blieb sie stehen und lauschte. War Ant in dem Lesesaal verschwunden, den man Lower Camera nannte? Kate ging die Stufen hinunter.
An der Tür zum Lesesaal hielt sie inne und spähte hinein. Sie befand sich vor dem einzigen Ausgang für Leser; falls er drinnen war, würde er nicht wieder hinauskommen können, ohne sie zu passieren.
Genau geradeaus befand sich die kleine Mittelinsel mit den Karteikatalogen und einigen Computern. Links davon war der Schalter für die Vorbestellungen, wo ein Angestellter in einem schwach beleuchteten Regal nach einem Buch suchte. Von der Mittelinsel aus strebten lange Lesetische sternförmig auseinander wie die Speichen eines Fahrrads. Im Schein der mit cremefarbenen Lampenschirmen gedämpften Leseleuchten arbeiteten Studenten. Das Licht war ausreichend, ohne grell zu wirken. Warme Lichtflecke in einem Ozean der Dunkelheit. Kate sah sich um. Keine Bewegung. Vielleicht saß er an einem der Tische und tat so, als ob er las. So genau es eben ging, fasste sie jede einzelne Person ins Auge. Nur wenige waren so hoch gewachsen wie Ant, allerdings gab es mehrere ganz in Schwarz Gekleidete. In diesem Semester schien die Frisurenmode unabhängig vom Geschlecht zum Kurzhaarschnitt zu tendieren, was Kate die Suche erleichterte. Sie bemühte sich redlich, die Schatten zu durchdringen, entdeckte aber niemanden, der auch nur entfernt an Ant erinnerte. Hier war er nicht. Dann also oben.
Rückwärts gehend entfernte sich Kate aus dem Lesesaal. Immer noch hielt sie Ausschau nach einer unwillkürlichen Bewegung. Doch außer den neugierigen Blicken einiger Leser tat sich nichts. Eine breite Treppe mit verschnörkeltem Eisengeländer führte in weitem Schwung in die nächste Etage hinauf. Kate stapfte sie empor. Ein wenig außer Atem erreichte sie den Lesesaal der Upper Camera.
Der Schalter in der Mitte des Raumes, wo sich das für diesen Abend eingeteilte Aufsichtspersonal aufhielt, war wie ein Ausrufezeichen geformt. Trotz einer moderneren Beleuchtung konnte Kate Ant nirgends ausmachen. Japsend eilte sie an den Schalter.
»Haben Sie einen Mann gesehen?«
»Kate, Liebste, ich dachte, du hättest inzwischen mindestens zwei. Ist es so dringend?«
Es war Andrew Grove, der von seinem Buch aufblickte und sie verwundert musterte.
»Hör auf, Witze zu machen, Andrew!«
»Suchst du einen bestimmten Mann, oder wäre dir jeder recht?« Das also war die Revanche für ihre Neckereien über Isabel und die Swervedriver, aber ihr reichte es.
»Nerv mich nicht, Andrew!« Ein paar Köpfe fuhren von ihren Büchern auf, doch die Blicke schienen nicht unbedingt unfreundlich. Trotzdem senkte Kate ihre Stimme der Umgebung angemessen um einige Dezibel. Immerhin wollte sie ihre Zugangskarte zur Bodleian Library nicht aufs Spiel setzen. »Ist vielleicht vor ein paar Minuten ein junger Mann ganz in Schwarz und mit einem dunklen Pferdeschwanz hier hereingekommen?«
»Du meine Güte, diese Beschreibung passt doch auf ganze Heerscharen. Außerdem muss ich gestehen, dass ich so in den neuen Dick Francis vertieft war, dass ich nicht registriert habe, wer hereingekommen ist oder auch nicht.«
Kate kehrte ihm den Rücken zu und begann, den Lesesaal zu erkunden. Zwei Wendeltreppen führten zu einer Galerie hinauf, doch das interessierte sie im Augenblick nicht. Sie konzentrierte sich auf die Suche im Hauptraum. Allerdings verlor sie ziemlich schnell die Orientierung. Der runde Lesesaal überforderte ihren Ortssinn, der schon unter normalen Umständen nicht unbedingt der beste war. Irgendwann fand sie sich vor einem Computer-Terminal wieder, fiel über eine Stufe und erblickte vor sich eine offene Tür, hinter der sich ein winziger Raum mit Spüle, einem Regal und einem Wasserkocher befand. Auf dem Regal standen ein paar Dosen mit Pulverkaffee und Trockenmilch sowie ein Behältnis mit
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