Morgen wirst du sterben
fallen und schloss die Augen. Sie stellte sich vor, dass Felix den ersten Schritt getan hätte und den zweiten gleich hinterher und dass er sie zu einem Urlaub auf eine Südseeinsel eingeladen hätte. Und nun lebten sie in einer Palmhütte am Strand, für ein paar Wochen oder Monate oder den Rest ihres Lebens. Sie schwammen im Meer, angelten und brieten die Fische über dem offenen Feuer und fütterten sich gegenseitig damit und tranken Kokosnussmilch dazu, obwohl Sophia Fisch eigentlich ebenso verabscheute wie Kokosnüsse. Sie küssten sich bei Sonnenuntergang. Und bei Sonnenaufgang. Und überhaupt immer.
Sophia seufzte. Ihr Computer machte leise Pling! Eine Mail war eingegangen. Felix, dachte Sophia. Sie fuhr in die Höhe, so schnell, dass ihr Gehirn nicht mitkam und ihr schwindlig wurde. Warum sollte er mir schreiben?, dachte sie. Er hat mir noch nie geschrieben. Aber das überzeugte ihren Körper nicht, der vor Aufregung zitterte, als sie zum Schreibtisch ging und die Nachricht aufrief.
Kein Absender. Aber ein Betreff: 2. Juli. Eine neue Mail von Sarah Volker. Die Nachricht lautete: Ich sehe dich. Vergiss mich nicht.
Du blöde Kuh!, dachte Sophia wütend. Was willst du eigentlich von mir? Warum beschwerst du dich erst jetzt? Warum hast du dich damals nicht gewehrt? Hast den Schwanz eingezogen und die Schule gewechselt, und nun, über ein Jahr später, beklagst du dich bei mir. Ausgerechnet bei mir! Aber Emily hast du nicht geschrieben, das hast du dich dann doch nicht getraut.
Ich rufe sie an, dachte Sophia. Und wunderte sich, dass sie nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Im Online-Telefonbuch fand sie siebzehn Einträge zu »Volker«, aber nur einer der Teilnehmer wohnte in der Nordstraße. Ihre Finger zitterten vor Wut, als sie die Nummer wählte. Na warte!, dachte sie.
»Volker.« Eine Frauenstimme.
»Sarah?«, fragte Sophia. »Bist du das?«
Kurzes Schweigen am anderen Ende. »Wer spricht denn da?«
»Sophia Rothe.«
Längeres Schweigen.
»Wir waren zusammen in einer Klasse. Auf dem Heinrich-Heine«, sagte Sophia. Wenn es überhaupt Sarah war, mit der sie redete und nicht ihre Mutter oder ihre Schwester.
»Ich weiß«, sagte Sarah. »Was willst du?«
»Das weißt du doch auch«, meinte Sophia.
»Bitte?«
»Du schickst mir doch diese Mails. Ich sehe dich. Vergiss mich nicht. Und diese andere Nachricht vor ein paar Wochen.«
»Spinnst du?«, fragte Sarah befremdet. »Warum sollte ich dir eine Mail schreiben? Ich kann mich kaum an dich erinnern.«
»Ach komm, Sarah! Tu doch nicht so! Wir waren total fies zu dir damals. Ich schäm mich richtig dafür, dass ich da mitgemacht habe. Diese Facebook-Aktion, das war einfach nur geschmacklos.«
»Das war doch Emily«, sagte Sarah. »Und Luzie Wanders. Und Marie und Emma. Die haben sich das ausgedacht.«
»Und ich. Ich war auch dabei.«
»Du!«, sagte Sarah verächtlich. »Du warst auch ein Opfer. Dich haben sie doch nicht ernst genommen.«
»Ich hab die Fotos bearbeitet«, sagte Sophia. Es klang nicht wie ein Geständnis, sondern wie eine Rechtfertigung. Dabei wusste sie ganz genau, dass Sarah Recht hatte. Emily und die anderen hatten sie nie richtig zur Kenntnis genommen. Sie hatten sie nur benutzt und dann fallen gelassen.
»Echt? Du warst das?«, fragt Sarah gleichgültig. »Na, dann vielen Dank!«
»Entschuldigung«, flüsterte Sophia.
»Nee. Im Ernst. Danke. Das mit den Fotos hat mir den Rest gegeben. Das war der letzte Tritt in den Arsch, danach reichte es. Danach bin ich gegangen. Und jetzt geht’s mir gut. An meiner neuen Schule bin ich Stufensprecherin, kannst du dir das vorstellen?«
Nein, das konnte Sophia nicht. Pickelsarah in der Schülervertretung. Aber vielleicht hatte sie ja jetzt keine Pickel mehr.
»Ich hab dir nicht geschrieben. Echt nicht. Wahrscheinlich waren es die anderen. Weil du jetzt an der Reihe bist. Wer weiß, was sie vorhaben. Ich trau denen alles zu. Im Ernst, Sophia, du solltest auch abhauen. Die werden dich nie akzeptieren, nie. Egal wie sehr du dich erniedrigst.«
Dann legte Sarah auf und seufzte zufrieden, davon war Sophia überzeugt, auch wenn sie es natürlich nicht mehr hören konnte. Sarah hatte ja auch allen Grund, froh und erleichtert zu sein. Weil alles Weitere nicht mehr ihre Angelegenheit war, sondern einzig und allein Sophias Problem.
Wer immer die Mail geschrieben hatte, es war nicht Sarah. Und von Emily kam sie auch nicht, jedenfalls konnte Sophia sich keinen Grund denken, weshalb
Weitere Kostenlose Bücher