Morgen wirst du sterben
nötig. Wenn das Wetter gut ist, bring ich es dir am Wochenende bei.
Jetzt ist Wochenende, wir sind im Wasser, Dad und ich. Ich liege auf Dads Händen und Mama liegt am Ufer auf der Decke. Aber ich kann immer noch nicht schwimmen. Ich huste, weil ich Wasser geschluckt habe.
Dad wartet, bis ich fertig gehustet habe. Ich habe Angst, dass er nun wütend wird, so wie Papa immer wütend geworden ist, wenn ich aufgegeben habe. Man muss sich ja auch mal irgendwo durchbeißen. Aber Dad wird nicht wütend. Wir gehen noch mal dorthin zurück, wo wir stehen können, sagt er. Und dann stellt er sich ein Stück von mir weg und sagt: Spring!
Das geht nicht, das ist zu weit, sage ich und er sagt: Versuch’s!
Also, spring ich im Wasser, so weit ich kann, und rudere mit den Armen, bis ich bei ihm bin.
Toll!, sagt er. So geht Schwimmen. Nur ein bisschen länger.
Und dann geht er ein bisschen weiter weg und ich springe wieder und rudere und paddle mit den Armen, und ein bisschen bin ich auch mit den Zehenspitzen am Boden, aber nur ein bisschen, und dann bin ich bei ihm. Und so geht es den ganzen Morgen und den Nachmittag, und dann kann ich schwimmen und weiß gar nicht mehr, warum ich es vorher nicht konnte.
Ich bin so stolz auf dich!, sagt Dad und Mama ist auch stolz auf mich. Mein großer Junge!, sagt sie und guckt Dad an und dann fängt sie an zu weinen.
Nicht weinen!, sagt Dad. Ist doch alles gut, meine Blume.
Ist doch alles bestens, meine Blume, sage ich und da lacht Mama wieder.
7
Moritz hatte einen Tiefschlag bekommen und war zu Boden gegangen. Da lag er nun und kam nicht mehr hoch. Seit der Abiturprüfung verließ er kaum noch sein Zimmer. Und keiner wusste genau, was er den ganzen Tag machte. Vielleicht surfte er im Internet oder starrte an die Wand. Jedenfalls drang kein Geräusch aus dem Raum.
»Mir geht es gut«, sagte er, wenn man ihn fragte, was denn los sei. »Macht euch keine Gedanken.« Aber natürlich beunruhigte das seine Eltern nur noch mehr.
»Er ist total deprimiert, weil er sein Abitur vermasselt hat«, hörte Sophia ihre Mutter am Telefon sagen.
Vermasselt. Moritz hatte einen Schnitt von 1,9 auf dem Abizeugnis, von so etwas konnte Sophia nur träumen. Lächerlich, dachte sie.
»Ich weiß gar nicht, was das ganze Theater soll!«, erklärte sie ihren Eltern beim Abendessen, Moritz fehlte mal wieder. »Nach ein oder zwei Wartesemestern ist sein Schnitt doch vollkommen okay. Warum macht er in der Zwischenzeit nicht einfach eine Ausbildung zum Krankenpfleger? Oder ein soziales Jahr im Altersheim oder in den Slums von Kalkutta? Wär doch eine gute Vorbereitung auf das Studium.«
»Er wollte es eben so schaffen«, seufzte ihre Mutter. »Moritz ist Rückschläge nicht gewöhnt.«
»Der arme Kerl«, spottete Sophia. »Na, da kann ich ja froh sein, dass ich so rückschlagserfahren bin.«
Ihr Vater wollte etwas entgegnen, aber dann unterbrach er sich, weil die Tür aufging. Moritz stand plötzlich im Raum, bleich wie ein Gespenst. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er starrte seine Familie an, aber Sophia hatte das Gefühl, dass er durch alle hindurchblickte. Wie neulich, als sie ihn unten auf der Straße gesehen hatte.
»Moritz!« Frau Rothe sprang auf und eilte auf ihren Sohn zu wie auf einen Schwerkranken, den man stützen muss. »Geht es dir besser?«
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Hier. Das kam heute Morgen für mich an.« Er legte ein Blatt vor seinen Vater auf den Tisch.
»Die Uni Heidelberg. Deine TMS -Ergebnisse liegen vor.« Herr Rothe blickte überrascht zu seinem Sohn auf. Moritz hatte im April an dem Test für medizinische Studiengänge teilgenommen, der die Aussichten auf einen Studienplatz erheblich verbessern konnte, wenn man ihn erfolgreich bestand.
»Und? Hast du sie schon abgerufen?«
Moritz nickte. Dann kniff er sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und schloss gleichzeitig die Augen.
»Nicht gut«, flüsterte Frau Rothe.
»Überdurchschnittlich«, sagte Moritz. »Ich hab einen Testwert von 130.«
»Klär mich mal auf«, sagte sein Vater. »Was ergibt das für eine Note?«
»Eins Komma null oder so«, sagte Moritz.
Sophia unterdrückte ein lautes Stöhnen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte das Zimmer verlassen. Eins Komma null oder so. Wie er das sagte. Als ob das eine Selbstverständlichkeit und die unwichtigste Sache der Welt wäre.
»Ist doch super!«, sagte sie stattdessen laut. »Herzlichen Glückwunsch, du hast es geschafft!« Ihre
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