Morgen wirst du sterben
ist nie da.
Aber dann ist er auf einmal doch da.
Hallo, Großer, sagt er. Wie wär’s mit einem Eis?
In der Eisdiele erzählt er mir, dass er in eine andere Stadt zieht. Weil er da besser arbeiten kann.
Nimmst du mich mit?, frage ich.
Das kann ich nicht. Du musst bei deinem Papa bleiben, sagt er.
Bitte!, sage ich, und mein Chocolate-Chip-Eis schmeckt plötzlich wie Pistazie.
Es geht nicht, sagt er, wirklich nicht.
Ich sage: Frag Papa doch mal. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich mitkomme. Er findet mich nämlich voll bescheuert.
Dad lacht. Das ist doch Quatsch. Weißt du was? Du kommst mich mal besuchen.
Wann?, frage ich.
Das sehen wir dann. Ich bin doch noch gar nicht weg, sagt Dad.
Aber das stimmt nicht. Eigentlich ist er schon weit weg. So weit, dass er mich kaum noch sehen kann. Seine Augen gucken durch mich durch in seine neue Wohnung in der anderen Stadt.
Ich esse mein Eis nicht auf, weil mir plötzlich die Kotze hochkommt. Ich mag kein Chocolate-Chip mehr.
11
»Gott spart das Unglück des Gottlosen auf für dessen Kinder. Er vergelte es ihm selbst, dass er’s spüre.« Die beiden Sätze waren aus der Bibel, das fand Julie durch Googeln heraus. Ein Zitat aus dem Buch Hiob, Kapitel 21, Vers 19.
Der Sinn der Botschaft war ihr allerdings unklar. Offenbar ging es darum, dass das Unrecht des Vaters auf seine Kinder zurückfiel. Aber was hatte das Ganze mit ihr zu tun? Sie hatte keine Kinder und keine Geschwister und ihren Vater kannte sie so gut wie gar nicht. Du hast keinen Vater, sagte Marianne immer. Nur einen Erzeuger.
Vor zwanzig Jahren war sie nach irgendeinem Gig in irgendeiner Stadt mit irgendeinem Typ ins Bett gegangen. Als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, war er weg. Und Marianne war schwanger und ihre Karriere im Eimer.
»Warum hast du mich überhaupt bekommen?«, hatte Julie sie einmal gefragt. »Du hättest doch einfach abtreiben können. Ich meine, du warst doch gerade so irre erfolgreich.«
»Na ja. Natürlich hab ich darüber nachgedacht, kannst du dir ja denken. Die ganze Band, mein Manager, die Agentur, meine Eltern sowieso, alle haben sie auf mich eingeredet und wollten, dass ich dich wegmachen lasse. Aber ich war ja so naiv damals. Ich hab wirklich gedacht, dass ich mit einem Kind einfach so weitermachen könnte.«Als Marianne bewusst wurde, was sie da gesagt hatte, korrigierte sie sich hastig. »Ich meine, ich bin ja gottfroh, dass ich dich bekommen habe. Das war die beste Entscheidung meines Lebens.«
Als Julie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie geglaubt, dass ihr Vater nichts von ihr wusste. Sie hatte sich oft vorgestellt, dass er plötzlich vor ihrer Wohnungstür auftauchen würde, ein schöner, großer, starker Mann. Ich hab jahrelang nach dir gesucht, kleine Julie. Du bist mein Ein und Alles. Und dass er sie mitnehmen würde in sein aufregendes Leben in einer schönen Stadt am Meer oder in den Bergen.
Und dann war er wirklich gekommen. »Dein Vater will dich kennenlernen«, hatte Marianne an Julies zehntem Geburtstag verkündet.
»Was?« Julies Herz blieb fast stehen. »Wie hat er uns gefunden?«
»Wie meinst du das?«
»Wie hat er herausgefunden, dass es mich gibt?«
Marianne zog die Augenbrauen hoch. »Das wusste er doch die ganze Zeit.«
»Er wusste, dass ich seine Tochter bin? Warum hat er mich dann nie besucht?«
»Ich wollte das nicht«, sagte Marianne. »Er war verheiratet und wollte sich nicht trennen. Es hätte dich nur verwirrt. So wie es war, war es besser.«
Aber mit zehn Jahren, fuhr sie fort, sei Julie alt genug, selbst zu entscheiden. Ob sie ihren Vater treffen wolle oder nicht.
»Willst du?«, fragte Marianne.
Natürlich wollte Julie. Sie war sauer auf ihre Mutter, dass sie so lange gewartet hatte. All die Jahre hatte sie ihren Vater hingehalten. Und Julie auch.
Schon am nächsten Wochenende brachte Marianne Julie ins Marriott-Hotel, wo ihr Vater in der Lobby auf sie wartete. Und genau wie Julie es sich immer vorgestellt hatte, war er groß. Allerdings fand sie ihn nicht sehr schön und er wirkte auch nicht richtig stark. Auch sonst war nichts so wie in ihrer Vorstellung. Ihr Vater wusste nichts mit ihr anzufangen und sie wusste nichts mit ihrem Vater anzufangen. Er führte sie zuerst in den Zoo, wo sie schweigend vor Eisbärengehegen, Affenkäfigen und Aquarien standen. Später gingen sie ins Kino, in einen Kleinkinderfilm, für den Julie viel zu alt war und ihr Vater erst recht. Sie war trotzdem erleichtert, immerhin
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