Morgen wirst du sterben
Gästezimmer zu übernachten. Sie selbst hatte danach kaum geschlafen, genau wie in der Nacht zuvor.
Philipp war ein komischer Typ, sie konnte ihn nicht richtig einschätzen. Dass er und Moritz sich nicht mochten, war offensichtlich. Sie reagierten total aggressiv aufeinander. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sich einfach zu ähnlich waren. Beide waren Macher, Bestimmer. Alphatiere.
Sophia gähnte. Und nun war auch diese Julie bei ihnen aufgekreuzt. Genau wie Moritz und Philipp strotzte sie vor Selbstbewusstsein. Das hatten sie alle drei von ihrem Vater geerbt. Als Sophia gezeugt worden war, war der Vorrat an Selbstvertrauen leider aufgebraucht gewesen, sodass sie nichts mehr abbekommen hatte.
Auch in puncto Aussehen waren ihr ihre drei Geschwister weit voraus. Philipp war groß und dunkelhaarig wie ihr Vater. Er hatte die hohen Wangenknochen und die lange, gerade Nase geerbt. Und wenn er lachte, bildeten sich bei ihm genau die gleichen Falten an der Nasenwurzel und an den Augen. Allerdings lachte er ziemlich selten.
Moritz und er sahen sich überhaupt nicht ähnlich. Moritz war blond und hatte ein freundliches, offenes Gesicht. Philipp wirkte dagegen irgendwie düster. Und Julie sah einfach atemberaubend aus. Schlank und langbeinig wie ein Model, mit glänzendem blonden Haar, das sie in einem fransigen Bob trug. Und dazu braune Augen, eine seltene Kombination. Wie sie Sophia angestarrt hatte, als sie ihr vorhin die Tür aufgemacht hatte. Bestimmt war sie total entsetzt gewesen, dass Sophia so fett und hässlich war.
Papa wäre stolz auf dich, dachte Sophia plötzlich. Eine wunderschöne, selbstbewusste, kluge Tochter, eine junge Frau, die weiß, was sie will, und die ihre Ziele erreicht. Das hat er sich doch immer gewünscht. Und Philipp würde ihm ebenfalls gefallen. Er war erst dreiundzwanzig und hatte eine Ausbildung abgeschlossen und sogar sein eigenes Unternehmen aufgezogen. Und das alles ohne die Hilfe seiner Eltern. Wunderkinder, wohin man nur schaut, dachte Sophia. Bis auf mich natürlich.
»Puh, hat der Typ euch auch so auseinandergenommen?«, fragte Julie, nachdem Becker seine Befragung endlich beendet hatte. »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass der nur darauf lauert, dass ich mich in irgendeinen Widerspruch verwickle.«
Die vier Geschwister standen jetzt draußen auf der Terrasse unter der Markise. Ein sanfter Nieselregen hatte eingesetzt, das leise Geräusch der Tropfen auf den Blättern hatte etwas ungemein Friedliches. Sophia fühlte sich auf einmal schwindlig vor Müdigkeit.
»Bei mir war’s genauso«, erklärte Philipp. »Er fand es total seltsam, dass ich sofort hierhergefahren bin, wo ich meinen Vater doch noch nie zuvor gesehen habe. Und er hat mich bestimmt zehnmal gefragt, warum ich nicht schon früher Kontakt mit ihm aufgenommen habe.«
»Und? Was hast du ihm geantwortet?«
»Bis zum Tod meiner Mutter war ich ja überzeugt davon, dass er tot war. Und danach hat er sich auch nicht bei mir gemeldet. Es war ja wohl offensichtlich, dass er kein Interesse an mir hatte.«
»Ihr habt doch auch anonyme Nachrichten von diesem V bekommen«, wechselte Julie jetzt das Thema. »Und? Habt ihr einen Verdacht, wer das sein könnte?«
»Keine Ahnung«, meinte Moritz.
»War bei euch auch dieses Datum drin?«
» Ich bin bei euch alle Tage bis zum 2. Juli«, zitierte Sophia.
»Der 2. Juli, genau. Was passiert dann?«
»Keine Ahnung«, sagte Moritz. »Verbindet einer von euch was mit dem Tag?«
Allgemeines Schulterzucken.
»Vielleicht ist das der Tag, an dem er …« Philipp unterbrach sich und verstummte.
»Bis zum 2. Juli ist es noch eine Woche«, sagte Sophia.
»Das ist alles so bescheuert«, murmelte Julie.
»Will jemand von euch noch was trinken?«, fragte Moritz. »Einen Tee vielleicht? Oder ein Bier?«
»Nee, lass mal«, sagte Julie. »Ich muss jetzt los. Ich übernachte bei einer Schulfreundin, die wartet bestimmt schon auf mich.«
»Ich breche auch auf. Ich fahr heute noch zurück nach München«, sagte Philipp. Sophia hatte das Gefühl, dass er das gerade eben beschlossen hatte.
»Denk dran, mit dieser Ella zu reden«, erinnerte ihn Moritz. »Und wenn dir sonst noch irgendwas einfällt, immer raus damit! Du bist unsere einzige Verbindung zu Jochens Münchner Zeit.«
»Tolle Verbindung«, sagte Philipp verächtlich.
Julie atmete erleichtert auf, als sie endlich in der Straßenbahn saß. Drei neue Geschwister, das war doch ein bisschen viel auf einmal. Moritz und
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