Morgengrauen
Elke waren mittlerweile die Stufen heraufgekommen und standen im Türrahmen des Hummel’schen Badezimmers.
»Ich weiß es nicht!«, rief Martina. »Jetzt geht mal alle drei Minuten raus – auch du, Schatz!«
Letzteres galt Didi, der sich in jeder Hinsicht unwohl zu fühlen schien.
Vier Personen schauten in zwei Meter Abstand auf Martina Hummel, die – in ihrer Gesichtsfarbe der Blässe des Waschbeckens angeglichen – das Plastikstäbchen anstarrte.
Elke kam als Erste näher. »Da bildet sich ein Strich«, sagte sie.
»Au weia«, kommentierte Martina leise.
»Vielleicht geht die Farbe ja wieder weg«, sagte Klaus ohne echte Überzeugung.
In Hubertus Hummel schien sich alles zu drehen.
»Eindeutig rosa«, sagte Elke wieder.
Hubertus kramte nach dem Zettel, den er in die Hosentasche gesteckt hatte. Vielleicht hatte er sich getäuscht? Vielleicht hatte da gestanden: »Wenn sich im rechten Fenster ein Strich bildet, liegt keine Schwangerschaft vor.« Nein, auch nach dreimaligem Durchlesen: rosa gleich schwanger.
»Herzlichen Glückwunsch, Schatz!«, rief Elke und umarmte erst Martina, dann Didi – und schließlich Hubertus.
Auf den hatte die Neuigkeit – und vielleicht auch die Hitze – eine andere Wirkung. »Du, du, du«, rief er und näherte sich mit erhobener Faust dem wie versteinert dastehenden Didi Bäuerle.
Dann sackte Hubertus in sich zusammen.
Als er wieder zu sich kam, blickte er ausgerechnet ins Gesicht seines potenziellen Schwiegersohns, der sich seiner Erste-Hilfe-Kenntnisse besonnen und Hubertus versorgt hatte. »Nichts Ernstes, lediglich ein kleiner Schwächeanfall«, konstatierte Didi.
»Schatz, du solltest wirklich auf dein Gewicht achten«, meinte Elke. »Das ist gar nicht gesund. Und du darfst nicht so viel Fleisch essen. Siehst du, ich muss mich mehr um dich kümmern!«
Hubertus hegte Gedanken, wie sie in Comics immer mit einem Totenkopf, einem Blitz oder einem Messer gekennzeichnet sind. Für einen Moment hasste er sie alle: Elke mit ihrem Geschwafel, Klaus, der ihn immer in Gefahr brachte, den Hausmeister, der sich an seine Tochter heran- und offensichtlich noch viel mehr mit ihr gemacht hatte. Und natürlich Martina, die mit gerade einmal achtzehn Jahren schwanger war. Schwanger!
Dann fiel Hubertus ein, dass er jetzt wohl Großvater werden würde.
18. KANZLEIGASSE
»Nein, es liegt im Ermessen der Redaktion, einen Leserbrief zu kürzen.« Nur Klaus’ eindringliche Stimme war zu vernehmen, als Hubertus das Büro der Villinger Redaktion des Kuriers betrat. Sonst konnte er nur ein paar dunkle Haarbüschel hinter Computerbildschirmen und Papierstapeln erkennen. Jetzt, da Klaus aus dem Urlaub zurück war, hatte er noch mehr Arbeit als sonst auf dem Schreibtisch aufgehäuft. Es sah gerade so aus, als wolle er sich vor seinen Kollegen im Großraumbüro verbarrikadieren. Aber eigentlich entsprach das nicht Klaus’ Art.
Hubertus umkurvte geschickt die auf dem Boden liegenden Kartons – dass Riesles cholerischer Chef solch ein Durcheinander duldete? – und stand grinsend vor Klaus, der den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte und auf seiner Tastatur herumtippte. Für einen Gruß keine Kapazitäten.
»Nein, Herr Dr. Bröse, der OB hat bei uns überhaupt keine Lobby. Wir drucken Ihre Leserbriefe genau so ab und verändern sie auch nicht sinngemäß … Ja, wir wissen um Ihre Reputation.«
Da Klaus noch in das Gespräch vertieft war, ließ Hubertus den Blick etwas umherschweifen. Kleine und große Papierfetzen waren auf der ohnehin schon knapp bemessenen Arbeitsfläche des Schreibtischs verteilt. Dass Klaus im Zeitalter des Computers noch mit so viel Papier herumhantierte, wunderte Hubertus eigentlich. Aber immerhin hatte sein Freund bei der Zeitung angefangen, als man noch auf Schreibmaschine getippt und die Texte per Fax an die Zentrale durchgegeben hatte. Diese Erfahrung war wohl doch prägend gewesen.
An der Wand hinter Klaus’ Schreibtisch hing eine große metallene Druckvorlage einer Zeitungsseite des Kuriers . Darauf ein riesiges Foto von Klaus am Steuer seines Opel Kadett, die Zähne zu einem breiten Lächeln gebleckt, einen überdimensional großen Fotoapparat um den Kragen seines fast stadtbekannten zitronengelben Sakkos gehängt. Daneben eine riesige Überschrift: »Rasender Reporter Riesle auch mit 40 immer noch rastlos – mit 400 Sachen geblitzt.«
Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem so natürlich nie erschienenen Artikel um ein
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