Morgengrauen
Garten, von dem aus sich Schlingpflanzen an der Rückfassade des Hauses und an den rötlichen Begrenzungsmauern des schlauchförmigen Grundstücks ihren Weg gebahnt hatten. Das Gras stand ihnen fast bis zu den Knien. In den Beeten herrschte ein ziemliches Durcheinander von Unkraut, Salat, Kräuterstöcken und verschiedensten Blumen. Doch irgendwie passte das verwilderte Gärtchen zum ganzen Haus, das ja auch in die Jahre gekommen war.
»Die Fensterreihe rechts muss zu Claudias Wohnung gehören«, mutmaßte Hubertus.
»Genau. Und ich weiß auch schon, wie wir in die Wohnung gelangen«, grinste Klaus.
»Nein, Klaus, das ist zu gefährlich …«
Doch sein Freund hörte schon nicht mehr hin. Er war bereits dabei, sich am Abflussrohr fürs Regenwasser hochzuhangeln. Zumal er etwas entdeckt hatte: Einer der Fensterflügel schien einen Spalt weit offen zu stehen.
Alles Flehen von Hubertus half nichts. Klaus war bereits auf Höhe der Fensterreihe und tastete mit einem Fuß nach dem Fensterbrett. Es folgte der Arm, und schon stand der Freund in der Luke und winkte Hubertus zu sich.
»Aber wenn uns jemand entdeckt?«, flüsterte Hummel nach oben.
»Wer soll uns schon entdecken? Ist doch niemand zu Hause.«
»Vielleicht die Polizei.«
»Die war doch schon hier und hat die Wohnung abgesucht.«
»Und wenn das Rohr meinem Körper … äh … nicht standhält?«
»Jetzt komm schon!«
Zum Glück hielt das Rohr, auch wenn Hubertus schon kräftig daran ziehen musste, um Zentimeter für Zentimeter der Erdanziehungskraft zu entfliehen. Mit einem kräftigen Satz, Klaus’ herzhaftem Zupacken und einer kurzen, ungelenken Hängepartie am Fensterbrett – zum Glück war es kein tiefer Abgrund – gelang es Hummel schließlich, auf allen vieren ins Innere der Wohnung zu kriechen. Das Fenster war tatsächlich offen.
Hubertus landete mit beiden Händen auf einem Berg von Papier, Büchern und allerlei Kleinkram. Klaus’ Büro war gegen den Zustand von Claudias Wohnung geordnet wie eine Militärparade. Regale standen leer, Schränke offen. Alles schien durchwühlt und auf den Fußboden geschleudert worden zu sein, von dem man nur hie und da ein freies Fleckchen der rotbraunen Holzdielen ausmachen konnte. Die Vitrinengläser eines alten Wandschranks waren zersplittert.
»Die Polizei hat hier aber ganz schön gewütet«, wunderte sich Hubertus.
Klaus hatte jedoch eine andere Erklärung: »Ich glaube kaum, dass die Kripo so vorgeht. Du kennst doch unseren peniblen Müller, der hätte das den Kollegen von der Spurensicherung nie durchgehen lassen.«
»Du meinst also, dass außer der Polizei noch jemand hier war … der Mörder vielleicht?«
Riesle nickte: »In die Wohnung von Verena Böck wurde nach ihrer Ermordung auch schon eingebrochen. Haus- und Wohnungstür scheinen hier zwar unversehrt, aber du hast ja selbst gesehen: Wenn schon der Dekan ohne Schlüssel reinkommt …«
»Also doch ein Raubmord?«, fragte Hubertus, der gerade ein paar Fotoalben durchstöberte.
»Wohl kaum. Da wüsste ich bessere Raubopfer.« Klaus kramte in einem Stapel von Briefen. Vielleicht stand einer von ihnen ja im Zusammenhang mit Verenas Brief. Er warf auf jeden einen kurzen Blick, aber keiner der Inhalte deutete darauf hin. Einen Computer oder Laptop fanden sie nicht – vermutlich hatte die Polizei den beschlagnahmt.
Im Gang machten sie wieder eine interessante Entdeckung: ein kleines Loch an der Unterseite der Wand. Ein paar zerfetzte Kabelenden hingen heraus, daneben auf dem Boden ein paar Plastiksplitter, die zu der Telefonbuchse gehört haben mussten. Auch der Wandverputz um die Öffnung war in Mitleidenschaft gezogen worden.
»Sieh mal einer an.« Klaus kniete nieder, um die Kabelenden und das Loch näher in Augenschein zu nehmen. »Die Kabel scheint jemand abgerissen zu haben.«
»Na, klar: die Polizei«, mutmaßte Hubertus.
»Die würde nicht so vorgehen«, widersprach Klaus. »Aber warum sollte dieser Unbekannte ausgerechnet ein Telefon klauen?«
»Und vielleicht auch einen Anrufbeantworter«, ergänzte Hubertus. »Der kostet doch heutzutage keine fünfzig Euro mehr.«
»Natürlich, Huby!« Klaus schlug sich mit beiden Händen auf die Stirn. »Der Anrufbeantworter! Der hatte keinen finanziellen, sondern einen ganz anderen Wert für den Einbrecher! Wahrscheinlich wollte der Mörder irgendwelche Spuren verwischen. Nachrichten, die er vielleicht beim Opfer hinterlassen hat. Und bei Verena war das wohl auch der Fall! Bei ihr
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