Morgenlied - Roman
habe nichts dagegen. Eigentlich mag ich es sogar sehr.«
Sie blickte auf die Menschenmenge, die die Straße
säumte, die Väter mit den Kindern auf den Schultern, die langbeinigen Teenager, Familien und Freunde, die auf Klappstühlen am Straßenrand saßen und das Spektakel verfolgten. Es roch nach Hot Dogs und Zuckerwatte, und alles war hell und klar - der blaue Himmel, die strahlende Sonne, die Girlanden und Fähnchen, die über die Straße gespannt waren, die roten und weißen Petunien in den Blumenkörben, die an jedem Laternenmast entlang der Main Street hingen.
Junge Mädchen in kurzen Röckchen marschierten vorbei und schlugen Rad auf dem Weg zum Marktplatz. In der Ferne hörte man schon die Klänge der Tambourkapelle.
An den meisten Tagen würde sie sicher das Tempo von New York, die Pariser Eleganz oder die Romantik in Florenz vorziehen, aber an einem sonnigen Samstagnachmittag Ende Mai war Hawkins Hollow ein perfekter Ort.
Sie drehte sich um, als Fox ihr ein Glas hinhielt. »Eistee«, sagte er. »Drinnen habe ich auch Bier, wenn du das lieber möchtest.«
»Nein, das ist wunderbar.« Sie warf Gage einen fragenden Blick zu. »Guckst du dir nicht gerne Paraden an?«
»Ich habe schon zu viele gesehen.«
»Jetzt kommt der Höhepunkt«, verkündete Cal. »Die Hawkins-Hollow-Highschool-Tambourkapelle.«
Publikumslieblinge, dachte Cybil, als beim Anblick der Majoretten und Cheerleader Applaus aufbrandete. Die Kapelle intonierte »Twist and Shout«.
»Es ist perfekt, oder?« Cybil traten die Tränen in die Augen. All diese jungen Gesichter, die klaren Farben der Uniformen, die wirbelnden Tambourstöcke, die rhythmische Musik. Auf dem Bürgersteig begannen die Leute zu tanzen und sangen den Text mit. Das Messing der Blasinstrumente funkelte im Sonnenlicht.
Blut spritzte aus den Trompeten über das Blau und das Weiß der Uniformen, die frischen jungen Gesichter, die hohen Hüte. Es tropfte von den Pikkoloflöten, rann von den Trommelstöcken.
»O Gott«, hauchte Cybil.
Der Junge wirbelte über die Straße, und als sein Blick auf sie fiel, wäre sie am liebsten ins Haus zurückgewichen. Aber sie hielt stand, dankbar für Gages Hand, die sich fest auf ihre Schulter legte.
Die Girlanden gingen in Flammen auf. Und die Kapelle spielte weiter unter dem Jubel der Zuschauer.
»Warte mal.« Fox ergriff Laylas Hand. »Manche können ihn sehen oder spüren. Sieh mal!«
Cybil sah Schock und Angst auf einigen Gesichtern in der Menge. Andere wirkten verwirrt. Hier und dort nahmen Eltern ihre Kinder an die Hand und wandten sich ab.
»Böser Junge! Böser Junge!«, schrie ein kleines Mädchen, das auf der Schulter seines Vaters saß. Dann begann es bitterlich zu weinen. Tambourstöcke gingen in Flammen auf, als sie in die Luft gewirbelt wurden. Blut strömte über die Straße. Einige aus der Kapelle nahmen Reißaus.
Quinn stand neben ihr und fotografierte.
Cybil beobachtete den Jungen, und er drehte seinen Kopf um hundertachtzig Grad, bis er ihr wieder in die Augen sah. Er grinste irre und entblößte dabei spitze Reißzähne.
»Dich bewahre ich bis zuletzt auf. Ich halte dich als Haustier. Ich versenke meinen Samen in dir, und wenn die Frucht reif ist, schneide ich sie aus dir heraus, damit sie dein Blut trinken kann wie Muttermilch.«
Dann sprang er hoch in die Luft auf einer Platte aus Feuer. Darauf stand er, als er auf sie zuschoss.
Gage zerrte sie so heftig zurück, dass sie hinfiel. Dann stellte er sich vor sie, als der Dämon unter grausigem Gelächter zu einer schwarzen blutigen Masse zerplatzte und verschwand.
Es hallte in ihr nach, während die Kapelle weiter die Straße entlangmarschierte. Die Fähnchen flatterten wieder fröhlich im Wind, und im hellen Sonnenschein wirkte alles wie blank geputzt.
»Ich glaube, ich habe genug von der Parade«, sagte Cybil und wandte sich zum Haus.
In Fox’ Büro lud Quinn die Fotos auf den Computer. »Was wir gesehen haben, ist auf den Bildern nicht zu erkennen.« Sie tippte auf den Bildschirm.
»Weil es nicht real war. Nicht völlig jedenfalls«, sagte Layla.
»Verschwommene Stellen und Flecken«, stellte Quinn fest. »Überall dort, wo der Bastard war.«
»Es gibt unterschiedliche Theorien über das Fotografieren von paranormalen Phänomenen«, erklärte Cybil.
Sie schob ihre Haare zurück und beugte sich dichter zum Bildschirm. »Manche behaupten, Digitalkameras wären von Vorteil, weil sie ein Lichtspektrum wiedergeben können, das für das
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