Morgenlied - Roman
verzweifelt. Er verlor sein Augenlicht und konnte die Liebe nicht erkennen.«
Wo ist denn da der Unterschied, dachte Cybil. Sie schüttelte den Kopf. »Wir beide können uns gerne mal von Frau zu Frau bei einem Glas Wein darüber unterhalten, aber im Moment geht es eher um Leben und Tod, wie du vielleicht gemerkt hast.«
»Du bist zornig.«
»Natürlich bin ich zornig. Er ist heute fast gestorben, in meinen Armen fast gestorben, weil er einen Weg finden wollte, die Sache zu beenden, die ihm, die uns aufgedrängt
wurde. Wir sterben vielleicht alle. Ich habe gesehen, wie es sein könnte.«
»Du hast ihnen nicht alles gesagt, was du gesehen hast.«
Cybil warf einen Blick auf Gage. »Nein.«
»Du wirst noch mehr sehen, bevor es zu Ende ist. Kind...«
»Ich bin nicht dein Kind.«
»Nein, aber du bist auch nicht seins. Leben oder Tod, sagst du, und so ist es. Mit der Sieben endet entweder das Licht oder die Finsternis. Mein Liebster wird entweder befreit oder verdammt.«
»Und meiner?«, wollte Cybil wissen.
»Er wird seine Entscheidung treffen wie ihr alle. Ich habe niemanden als euch. Ihr seid meine Hoffnung, mein Glaube, mein Mut. Heute habt ihr das alles gebraucht. Und er schläft«, murmelte Ann und blickte auf Gage. »Er lebt. Mehr als das. Er hat aus den Schatten des Todes eine weitere Antwort mitgebracht. Eine weitere Waffe.«
Cybil sprang auf. »Was für eine Antwort? Was für eine Waffe?«
»Du bist eine gebildete Frau mit einem starken, forschenden Verstand. Finde sie. Benutze sie. Alles liegt jetzt in deiner Hand. In deiner, seiner und der der anderen, Und er fürchtet euch. Sein Blut, das Blut des Dämons«, sagte sie, als sie zu verblassen begann, »unser Blut, euer Blut. Und ihres.«
Als Cybil wieder alleine war, blickte sie auf Gage. »Sein Blut«, sagte sie leise und eilte aus dem Zimmer.
14
Als Gage erwachte, erfüllte ihn ein verzweifeltes Bedürfnis nach Kaffee. Vorsichtig setzte er sich auf, und als sich das Zimmer nicht vor seinen Augen drehte, verließ er das Bett. Er fühlte sich nicht schwach, ihm war nicht übel, nicht schwindlig. Das waren gute Neuigkeiten.
Was zum Teufel hatte sie ihm in den Tee getan?
Sosehr er sich nach Kaffee sehnte, jetzt musste er erst einmal unter die Dusche. Er trat ins Badezimmer und zog sich aus. Im Spiegel betrachtete er den erhabenen Halbmond an seiner Schulter. Es war seltsam, nach all diesen Jahren wieder eine Narbe zu haben, eine deutlich sichtbare Erinnerung an die Zähne, die der Dämon ihm in die Haut geschlagen hatte. Alle Verletzungen hatte er ohne sichtbare Spur überstanden, aber Twisse war es in der Gestalt des kleinen Scheißkerls gelungen, ihm eine Narbe zu verpassen, die er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens behalten würde.
Er duschte, zog sich an und machte sich auf die Suche nach einem Kaffee. In Cals Arbeitszimmer hockten Quinn und Layla vor dem Computer. Beide blickten auf und lächelten ihn an.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Layla ihn.
»Ich möchte einen Kaffee.«
»Er scheint wieder ganz normal zu sein.« Quinn grinste. »Unten steht Kaffee. Cyb ist in der Küche, vielleicht
kannst du sie ja überreden, dass sie dir etwas zu essen macht.«
»Wo sind die anderen?«
»In der Stadt. Irgendwelche Dinge erledigen.« Quinn blickte auf die Uhr. »Aber sie müssten eigentlich jeden Moment wieder zurückkommen. Vielleicht sollte ich ja Cal anrufen, dass er etwas zu essen mitbringt. Cyb ist in ihre Arbeit vertieft und hat wahrscheinlich gar keine Zeit, um zu kochen.«
»Ich will Kaffee«, wiederholte Gage und ging hinunter.
Sie wirkte nicht so besonders vertieft, dachte Gage, als er die Küche betrat. Cybil saß vor ihrem Laptop an der Küchentheke, eine Flasche Wasser neben sich, aber sie starrte vor sich hin. Als er hereinkam, wandte sie den Kopf und schaute ihn an.
»Du siehst besser aus.«
»Ich fühle mich auch besser.« Er schenkte sich die letzte Tasse Kaffee ein. »Wie wäre es, wenn du mir frischen kochst, da ich doch beinahe gestorben bin?«
»Du lernst das Leben wieder ganz neu schätzen, wenn du dir deinen Kaffee selbst kochst«, erwiderte Cybil.
Na, mit Überreden war da wohl nichts. »Was war im Tee?«, fragte er.
Cybil lächelte nur. »Anscheinend etwa vier Stunden Schlaf. Während du schliefst, ist übrigens jemand vorbeigekommen.«
»Wer?«
»Ann Hawkins.«
Nachdenklich trank er einen Schluck Kaffee. »Schade, dass ich sie verpasst habe.«
»Dafür haben wir nett
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