Morgenrötes Krieger
Han ein bißchen Mut einflößte. Plötzlich hörte das schrille, durchdringende Geschrei abrupt und wie abgeschnitten auf. Hatha machte noch ein oder zwei Atemlängen weiter, dann verstummte auch er. Han schaute sich vorsichtig um. Wo, zum Teufel, steckte Usteyin? Der eine Wachtposten schien sich ebenfalls verdrückt zu haben. Han nützte die Gelegenheit und rannte zur Tür. Der Wachtposten lag rückwärts zusammengesackt hinter der Ecke. Über ihm stand Usteyin, in der Hand eines der Schwerter, von dem eine wäßrige bräunliche Flüssigkeit tropfte; es war kein Blut, auch wenn es offensichtlich die gleiche Funktion erfüllte. Sie war die Wand entlanggekrochen, irgendwie aus dem Raum herausgekommen und hatte die Kreatur von hinten überwältigt.
Han betrachtete sie einen Moment lang amüsiert. Sie schaute zurück mit einem wilden, unbändigen Leuchten in ihren Augen – ein Blick, den er noch nicht kannte. Es verschwand im selben Moment, da er es wahrnahm. Er drehte sich um und rief Hatha zu: „Hatha, was hast du mit der Armbrust gemacht, als wir zu Avings Burg kamen? Wo ist sie jetzt?“
„Hier, in einem anderen Zimmer. Drei Türen weiter rechts. Ich habe sie behalten; wollte sie zum Schlachtschiff mitnehmen, habe es aber immer wieder vergessen.“
„Ich hole sie. Sie ist besser als die, die deine Leute tragen. Bleibt hier. Entwaffnet sie. Wir werden sie brauchen, deine auch!“
Nachdem er Usteyin in den relativ sicheren Raum zurückgeschickt hatte, ging Han den Korridor hinunter zu jenem Zimmer, das Hatha ihm genannt hatte. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut. Verdammt! Es war dunkel! Wie viele von ihnen konnten hier versteckt sein! Er spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunterlief – aber kein Geschoß, das ihn traf. Er betrat den Raum. Auf dem Tisch lag die Armbrust – in ihre Einzelteile zerlegt. Er nahm sie und hockte sich neben den Tisch. Dann setzte er sie zusammen, spannte und lud. Der Köcher mit den Eisenpfeilen war ebenfalls noch da. Als er fertig war, rannte er zurück zur Halle, wo ihn die anderen schon erwarteten. Zusammen gingen sie Richtung Gebäudeausgang. Nichts geschah, ungehindert erreichten sie die Tür, die nach draußen führte: verdächtig weit geöffnet. Hatha wollte schon ins Freie treten, doch Han zog ihn zurück. Im selben Augenblick nagelte eines jener nadelförmigen Geschosse Hathas Mantelsaum an den Türrahmen. Leichenblaß im Gesicht wich er zurück.
Flach auf den Boden gedrückt, schlängelte sich Han zur Türöffnung. Draußen war es völlig dunkel – wie es zu erwarten war. Er konnte von seinem Platz aus den Schützen nicht sehen, ohne sich dabei selbst zu gefährden. Aber der Ecke nach zu urteilen, wo das Geschoß eingeschlagen war, mußte die Richtung innerhalb seines Gesichtsfeldes liegen. Han robbte hinüber zu Liszendir; sie kniete sich neben ihn.
„Kannst du blitzartig die Türöffnung durchqueren, so schnell, daß du von draußen unmöglich getroffen werden kannst?“
Sie nickte zustimmend und spannte ihre Muskeln. Han machte sich bereit. „Jetzt!“ flüsterte er. Liszendir durchsprang mit einem Riesensatz die Türöffnung; ein Nadelgeschoß schlug hinter ihr ein, verfehlte sie jedoch weit. Sie hatten zu langsam reagiert. Han dachte daran, daß er selbst das Ziel hätte sein können. Aber nun sah er den Heckenschützen. Er zielte sorgfältig und drückte ab: ein Schrei, dann eine Gestalt, die sich hochwarf, schreiend nach vorn taumelte und fiel. Bevor er ganz verstummte, kam ein zweiter von rechts herbeigerannt, um zu helfen. Han spannte erneut die Armbrust und schoß ein zweites Mal. Ohne ein Laut brach er zusammen und lag regungslos – auch der erste gab keinen Laut mehr von sich. Es war seltsam: Sie töteten, aber sie selbst starben beim leichtesten Stoß oder bei der kleinsten Verwundung. Er hätte geschworen, daß der Schuß nicht tödlich war. Komisch … Er erhob sich, hetzte hinaus in die Nacht und schaute sich um. Liszendir folgte ihm.
Es war eine klare, kalte Nacht, ohne Schnee und Wolken; frostig blaugetöntes Sternenlicht erhellte schwach die Panonaebene. Nur mit halbem Auge nahm er eine flüchtige Bewegung wahr. Er wirbelte herum und sah einen weiteren Pseudo-Ler, der direkt auf ihn angelegt hatte. Blitzartig ließ er sich nach vorn fallen, wußte, daß es seine einzige Chance war. Der erste Schuß ging vorbei; Han blieb in Bewegung, versuchte dabei die Armbrust neu zu laden, ahnte im gleichen Augenblick, daß er es nicht schaffen
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