Morgenrötes Krieger
Folge flinker Bewegungen mit der rechten Hand, wobei sie das Drahtgeflecht kaum berührte. Einige der Perlen veränderten ihre Position. Die geschickten und sicheren Fingerbewegungen waren fast zu schnell, um ihnen folgen zu können. Dann machte sie irgend etwas anderes mit der linken Hand, das Ding reagierte, kaum wahrnehmbar, veränderte sich und wurde – zu einem völlig anderen Flechtwerk. „Kannst du es nicht sehen?“ fragte sie. „Das war die Geschichte von Koren und Jolise. Es waren zwei Zlats, die eine Liebesaffäre miteinander hatten; sie stahlen die Juwelen und flohen …“ Sie unterbrach sich und musterte Hans Gesicht. „Nein, du siehst es nicht, stimmt’s?“ Ihre Begeisterung schlug in Enttäuschung um.
Han starrte hilflos auf das Flechtwerk. „Nein, ich kann es nicht sehen. Ich weiß nicht, wie. Wie viele Geschichten sind da drin?“ Er hatte den Eindruck, daß es so etwas wie ein symbolisches Gedächtnis war.
Doch er irrte sich. Usteyin erklärte: „Es gibt keine Grenze, du kannst so viele Geschichten eingeben, wie du willst. Er ist mir gut gelungen. Ich weiß es. Mag sein, daß ich in meiner Klasse nur zur vierten Kategorie zähle, aber mein Geschichtensammler ist der beste, den je ein Zlat gemacht hat. Da sind Drähte, Perlen und die Art ihrer Zuordnung. Dann die Bewegungen, die Art, ihn zu halten, und der Einfall des Lichtes. Ich kann noch andere Bewegungen erfinden. Es gibt keine Begrenzung. Er ist ganz ich selbst, wenn er spricht: Hände, Augen, ich, der Geschichtensammler. Ich blicke in ihn, sehe alles, alles gleichzeitig, wenn er sich verändert.“ Usteyin suchte stotternd nach Worten, stockte, wurde plötzlich beschämt. Offensichtlich verstand niemand ihren Geschichtensammler. Sie atmete einmal tief durch und begann von neuem: „Alles gleichzeitig, zeitlos. Dann erinnere ich mich, wie es geschah, nachher. Dort drinnen, da gibt es keine Zeit, deshalb muß ich es in mich hineintun – nachher. Aber es verändert sich. Es kommt … nebenbei. Ich spinne es aus, in meinem Kopf, lege die Geschichte so zurecht, daß die Dinge werden, wie wir sie erleben. Die Zeit ist für uns ein Schein, sie ist nicht wirklich. Alles ist im Augenblick. Wir aber leben nicht im Augenblick, deshalb passe ich es mir an. Verstehst du es jetzt?“
Sie hatten verstanden. Alle starrten auf das glänzende, glitzernde Etwas in Usteyins Hand. Han spürte, wie alte Glaubensmythen sich über den Kontrollraum senkten, Geister längst versunkener Zeiten zum Leben erwachten Orakel, Magier, bärtige Gurus, die durch die Wälder wanderten, Yogis, die sich selbst entrücken konnten, Milarepa, Tarot, die Kabbala, das I Ching, Hexen- und Teufelskulte – und schließlich dieses rothaarige Mädchen, das keine Kleider hatte, nicht lesen und schreiben konnte, nicht wußte, wie man Liebe machte, sich selbst nicht mal als Person begriff. Liszendirs Realitätssinn brach den Bann.
„Was muß man hineintun, um eine Geschichte zu machen?“ Liszendir hatte begriffen, was ein Geschichtensammler war.
Usteyin sah den Ausdruck im Gesicht des anderen Mädchens, erkannte, daß es verstanden wurde. „Was man will. Ich mache selber meine Geschichten oder wiederhole die alten, die ich kenne. Es sind viele-viele. Ich kenne sie gar nicht alle. Die Zlats haben mehr Geschichten als man in einem einzigen Leben erzählen kann. Sie handeln von Liebe, Leidenschaft, Ländern, Menschen, Helden, Dingen-die-es-nicht-gibt. Aber wir können ihn nicht sooft benutzen. Er ist gefährlich, sehr gefährlich. Zu viele Geschichten, zu tief hineingesehen, und er fängt deinen Geist, dein Herz, du sitzt wie in einer Falle, in den Drähten.“
Sie unterbrach sich und schaute in die Runde: ein besseres Verstehen stand in ihren Gesichtern geschrieben. Auch Han hatte jetzt begriffen. Das war gut – das war es, was sie sich so verzweifelt gewünscht hatte. Sie fuhr fort: „Nun, Han, mein Geliebter, warum funktioniert deiner nicht? Ist er kaputt? Hat er …“ – sie deutete mit ihrem klaren Blick auf Hatha – „… versucht, ihn zu benutzen?“ Hatha machte eine hilflose Gebärde. Er sah es vor sich, aber es ging weit über sein Begriffsvermögen.
Han entgegnete: „Nein, er funktioniert gut, aber er kann mir nicht sagen, was ich wissen will.“ Wie hätte er ihr klarmachen sollen, daß die Empfangsleistung der Detektorensysteme nicht ausreichte, um die Emissionsquelle bei den störenden Hintergrundimpulsen und -frequenzen genau lokalisieren zu können?
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