Morgenroetes Krieger
kleine Bett, setzte sie sanft und vorsichtig ab und deckte sie mit ihrer eig e nen Decke zu. Als sie ihre passende Schlafposition g e funden hatte, glitt ein sanftes Lächeln über ihr herrlich geformtes Gesicht, und sie murmelte etwas im Schlaf, was jedoch zu leise war, als daß er es hätte verstehen können. Er selbst war noch nicht müde – zu sehr b e stürmten ihn die verschiedensten Gedanken und Empfi n dungen.
Er dachte an Usteyin. Sie lebte ganz in der Gegenwart. Selbsteinschätzungen, wie bei Liszendir auf der Grun d lage von Traditionen oder wie bei zivilisierteren Me n schen anhand unbewußter und intuitiv gelebter Kultu r werte, waren ihr gänzlich fremd. Sie konnte nicht verst e hen und erkennen, wie diese Werte strukturiert sein könnten, und wenn er ehrlich war, so mußte er sich ei n gestehen, daß er selbst dazu nicht in der Lage war. Um Usteyins Vorstellungswelt begreifen zu können, hätte man alle zivilisatorischen Voraussetzungen abstreifen müssen, um sich dann ganz unvoreingenommen auf di e ses Eigenbild einzustellen, das eher dem eines wilden Tieres entsprach und weniger dem eines Sklaven – denn Sklaven hatten zumindest Aufgaben und Pflichten, erfül l ten einen gewissen Zweck, auch wenn dieser Zweck ein unfreiwilliger Beitrag zur Erhaltung der restlichen G e sellschaft war.
Sie dagegen war ganz und gar Mensch, kein Ler, kein Tier. In diesem Sinne besaß sie einen Fundus an Ne u gierde, Geisteskraft und Veranlagung, der nach Betät i gung drängte. Bisher war ihm vor allem ihre ungeheure Anpassungsfähigkeit aufgefallen. Liszendir hatte ihn selbst – soweit das ging – zum Ler gemacht, um sich ihm verständlich machen zu können. Usteyin dagegen abso r bierte, integrierte und projizierte alles in ihre zeitlose Gegenwart.
Er unterbrach seinen Gedankenfluß, griff nach der Broschüre mit den Zlat-Beschreibungen und las darin, bis ihm die Augen schmerzten. Nachdem er sich einige Zeit mit den langweiligen Hinweisen, der überladenen Spr a che und den vielen Ge- und Verboten herumgeschlagen hatte, wurde er müde, löschte das Licht und legte sich neben den warmen, entspannten Mädchenkörper zum Schlafen nieder. Er verglich sie im Geiste mit all denen, die er bisher kennengelernt hatte: Mädchen waren für ihn durchaus nichts Neues. Aber hier spielte etwas anderes hinein, ein gewisses inneres Wesensmerkmal, das den anderen abging. Ihre Schönheit drückte sich in Körper, Gesicht, Haut und Haltung aus. Dennoch war all dies keine bloße Hülle, hinter der sich nur Nichtigkeit und Hohlheit verbarg; aus ihr strahlte ein innerer Wesenskern nach außen, der sich jedem Zugriff zu entziehen schien, etwas völlig Abstraktes, das mit der Zeit zusammenhing – ja, Zeit! Frau? Geliebte? Familie … Kinder … rote Ha a re, behaarte Unterschenkel … fast wie bei … Zeit, Zei t gefühl, Kinder …
Dann riß er die Augen weit auf: Er hatte es! Die An t wort. Er wußte plötzlich, wer die Krieger manipulierte – und auch warum. Als Beweis fehlten ihm noch ein paar Antworten von Hatha – einfache Fragen. Es war mit e i nem Mal alles so klar und deutlich. Und einen Moment lang, einen winzigen, verschwindend kleinen Bruchteil eines Augenblickes lang trat ihm die Realität Usteyins vor Augen – dann versank er in tiefen Schlaf.
11.
Eines haben wir über die Natur gelernt: Sie bringt alles in einen allgemeinen Zusammenhang. Sie zwingt ihre Teile zur Vielfältigkeit oder verdammt sie nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten dazu, auf andere umliegende Teile Einfluß zu nehmen. Künstlichen Dingen fehlt diese E i genart; und dies trifft sowohl auf die belebten wie auch auf die unbelebten Dinge zu – wenn man unbedingt diese Unterscheidung machen will. Somit stehen wir Ler im Rahmen unserer eigentümlichen Selbststrukturierung weit über den Menschen – dem al t en Volk. Dennoch kann man an einer bestimmten Tatsache nicht vorbeigehen: Alles in allem sind Mensch und Ler in annähernd gle i cher Weise differenziert – nicht mehr oder minder. Kein Ler jedoch ist für einen Menschen nach einem gewissen Zeitraum der Gewöhnung etwas Geheimnisvolles, dag e gen sind die Menschen für uns Ler stets voller Überr a schungen – wie auch untereinander. Wir bevorzugen u n sere eigene sorgfältig durchstrukturierte Gesellschaft s ordnung. Aber ich kann auch versichern, wir haben gr o ße Ehrfurcht vor Völkern, die näher am Chaos leben als wir und die dieses Chaos im Gegensatz zu uns nicht
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