Morgenroetes Krieger
Alle drei waren sie Frauen, dennoch gab es etwas, das Liszendir von den beiden unterschied. Einen Moment lang entglitt es ihm, dann plötzlich war es ihm klar. In aller Deutlichkeit trat das Bild vor sein geistiges Auge – Liszendir sah irgen d wie „fertiger“ aus. Er löste ihr Bild auf und versuchte sich die beiden Mädchen in einer Situation unter lauter Menschen vorzustellen. Ja, richtig! Uraz nahm eine schlichte, einfache Gestalt an, während Pelki mit einiger Mühe neben ihrer Schwester fast attraktiv, verständig und geschickt erschien. Das paßte gut zu dem Eindruck, den er von ihr während der Fahrt bekommen hatte. De n noch – Liszendir war in ihrem Wesen „fertiger“.
Als er sie erneut beobachtete, wurde er auf etwas a n deres aufmerksam, das ihm bisher noch nicht so klar zu Bewußtsein gekommen war: Sie ließ ihr Haar nun länger wachsen, da der kurze Schnitt ein Zeichen ihrer Reifezeit gewesen war. Er erinnerte sich noch genau, wie sie d a mals ausgesehen hatte: kurz, glatt und in der Mitte g e scheitelt – geschlechtslos, ohne besondere Merkmale, wie alle, die im Reifungsalter waren. Dennoch – wie sehr er auch das Bild hin und her wendete – konnte er in ihr keine Geschlechtsgenossin sehen. Es war, als ob trotz aller kultureller Gleichheit der Geschlechter die angeb o renen Unterschiede dadurch erst zur vollen Entfaltung kamen; als ob Kleider und Haartracht das Eigentliche eher ve r deckten, statt es zu steigern, wie er bisher in Überei n stimmung mit allen anderen ihm bekannten Mi t menschen geglaubt hatte. Seine eigenen Leute waren der Ansicht, daß man Jungen und Mädchen bei gleicher Haar- und Kleidertracht unmöglich auseinanderhalten könnte. Dag e gen schienen eben diese Jungen und Mädchen mit dieser Sache keinerlei Schwierigkeiten zu haben – sie wußten es einfach. Han seinerseits wußte es jetzt ebe n falls.
Mit ihrer so typischen Nonchalance trug Liszendir ihr Haar im Nacken zusammengebunden, wobei sie sich e i ner Schnur bediente, die sie aus einem der Ballen herau s gefischt hatte; mit einer Grazie und Anmut floß es über ihren Rücken, daß selbst die feinste Seide damit nicht konkurrieren konnte. Sie spürte, daß er sie beobachtete, und drehte sich zu ihm um. Die Ruderstange hielt sie d a bei locker.
„Da du den Kopf heute so voller Gedanken hast, will ich dir ein Rätsel aufgeben. Bist du bereit? Ich will wi s sen, wie ein fließendes Gewässer, das nicht tiefer als di e ses hier ist, eine Gebirgskette von mehreren Meilen Höhe durchschneiden kann.“
Han lachte. „Du, der große Philosoph, fragst mich? Weißt du nicht, daß das Wasser mit seiner Demut, die die Niederungen aufsucht und sich nicht selbst erhöht, alles erreicht und gewinnt?“
„In der Tat, ein mnathman ! Dardenglir hatte recht, was dich betrifft, Han. Du mußt endlich diese Selbsttä u schung, reich werden zu wollen, aufgeben und ein heil i ger Mann werden. Wir können aus dir keinen Ler m a chen, aber du bist in der Lage, viele Geheimnisse zu e r lernen. Woher hast du das?“
Han lachte erneut. „Ich ziehe mich bisweilen in eine einsame Höhle zurück und erforsche rein durch geistige Übung die Geheimnisse von Erde und Wasser, Rot und Schwarz, Mann und Weib.“
Sie lachte und verbesserte ihn: „Tlanman und srithman, meinst du wohl? Männliche Person und weibl i che Person?“
„Nein, Mann und Weib. Ich muß mich auf das hy m manon, das alte Volk beschränken, damit ich keine Krämpfe kriege wie vom übermäßigen Genuß gegrillten drif -Fleisches. Oh je! Ich wünschte, wir hätten das störr i sche Biest verspeist, bevor Hath’ingar uns erwischte und auf diesen Vegetarierplaneten verfrachtete. Aber im Ernst, Liszendir, ich will deine Frage beantworten. Ich glaube, der Grund, warum der Fluß das Gebirge durc h schneidet, liegt in der Sommerflut, wenn die Sonne vom Süden zurückkehrt. Steht die Sonne über einem der Pole, so bildet sich auf dem anderen eine dicke Eiskappe, die mit einem Schlage abtaut. Das Wasser muß irgendwohin, und wenn der Pol hochgelegen ist … Ich glaube auch, daß der Fluß älter ist als die Berge und sie auf gleichem Niveau zerteilte, während sie sich auffalteten, wobei er jeden Sommer wieder abtrug, was sich im Jahr zuvor angehoben hatte. Das ganze Wasser kommt auf einmal, und wenn es abebbt, so sinken die kleinen Partikel und Schwebestoffe hier auf den Grund des Sees, der sich Jahr für Jahr erneuert; das ist auch die Erklärung, warum er so schlammig und
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