Morgenrot
ihm verwehrt geblieben.
»Da fällt mir etwas viel Wichtigeres ein: Wie ist es um dein Liebesleben bestellt?«, fragte Nadine mit schlecht verhohlener Neugierde. »Sind die Zeiten des Zölibats vorüber? Darf Adam endlich das tun, wofür sein begehrenswerter Körper geschaffen worden ist?«
Wütend pochte Lea gegen den Hörer und hörte Nadine kurz aufquieken. Doch so leicht ließ sich ihre Freundin nicht von einer Fährte abbringen: »Worauf wartest du eigentlich, meine Süße? Wir sind schließlich nicht durch die Hölle gegangen, damit ihr beiden nun vor lauter Zurückhaltung Staub ansetzt. Du gehst jetzt sofort zu deinem Hengst und tust ausschließlich das, was ich mit seiner Lendengegend anstellen würde. Und zwar ...«
Ehe Nadine tatsächlich ihre Auftragsliste vortragen konnte, drückte Lea mit roten Ohren auf die Ausschalttaste des Telefons. Nervös rutschte sie auf dem Küchenstuhl herum - soweit das knirschende Museumsstück das überhaupt zuließ. Als das Telefon erneut klingelte, ignorierte sie es.
Eine Zeit lang saß sie noch in Gedanken versunken da, bis die Katze ihre Aufmerksamkeit erregte, die mit energischen Sprüngen einen Schmetterling durchs hohe Gras verfolgte. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Adam, der am Morgen zu einem Streifzug durch die Wälder aufgebrochen war. Nadines Worte hallten ihr dabei durch den Kopf und schienen mit einem Mal gar nicht mehr so beunruhigend.
Plötzlich kribbelte es in ihren Gliedern. Sie sprang auf die Füße und überquerte die Wiese, auf der sie als Kind Ball gespielt hatte. Sie ging zu dem eingestürzten Bootsanleger und folgte dem Trampelpfad, der um den See führte.
Trotz des für diese Jahreszeit erstaunlich sonnigen Wetters sah das Wasser dunkel aus. Lea wusste, dass das an den dicht stehenden, hohen Bäumen lag, die den See umgaben. Aber für sie war dieser See seit Kindheitstagen eine verwunschene Spiegelfläche, die einem die Fingerspitzen gefrieren ließ, wenn man die Kühnheit besaß, die Oberfläche zu durchbrechen.
Wie überall auf dieser Seite des Sees ragten immer wieder rundköpfige Findlinge aus der dichten Vegetation am Ufer heraus. An einer Stelle schmiegten sich mehrere dieser Steine aneinander und bildeten so einen natürlichen Zugang zum Wasser. Lea zögerte einenAugenblick, dann kletterte sie auf den größten Findling, dessen glatte Oberfläche zum Verweilen einlud.
Sie setzte sich im Schneidersitz nieder, gab sich Kindheitserinnerungen hin und betrachtete das geheimnisvolle Wasser. Bilder von Raubfischen, die an chinesische Drachen erinnerten und schwerelos über den Grund des Sees glitten, setzten sich unwillkürlich zusammen. Rankenpflanzen mit Saugnäpfen wiegten sich in der Strömung, Luftblasen stiegen unablässig auf, und in einem Wald aus Algengestrüpp lauerte etwas Augenloses auf Beute.
Ein Flackern zog Leas Aufmerksamkeit auf sich. Sie blinzelte. Vom Anblick des Sees verzaubert, war sie unsicher, ob ihr die ungezügelte Fantasie vielleicht etwas vorgaukelte. Doch dann zeichnete sich unter der Wasseroberfläche eine helle Silhouette ab. Dort draußen war etwa aufgestiegen und bewegte sich nun dicht unter der Oberfläche auf sie zu. Seeungeheuer und aufgedunsene Wasserleichen zogen an ihrem inneren Auge vorbei - schneller als das Licht und doch von grausamer Klarheit.
Als der schmale Umriss allmählich die Gestalt eines menschlichen Körpers annahm, atmete sie erleichtert aus. Aber selbst als Adams Kopf auftauchte, war der erschrockene Ausdruck noch nicht gänzlich von ihrem Gesicht gewichen. Obgleich er noch recht weit von ihr entfernt war, konnte Lea sehen, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.
Mit kräftigen Zügen schwamm Adam auf das Ufer zu und stieg dann behände über die Findlinge aus dem Wasser. Er blieb auf einem der unteren Steine stehen und schüttelte sich das Wasser aus dem Haar, das ihm an Wangen und Hals kleben blieb.
Leas Blick hing an seinem Lächeln fest, das sie nicht recht zu deuten wusste, während er zu ihr kletterte und sich mit angezogenen Beinen dicht neben sie setzte, die Unterarme locker auf die Knie gelegt.
Lea zwang sich, wieder auf den See zu schauen. Obwohl es ihr selbst albern vorkam, konnte sie die Aufregung, die seine Nähe auslöste, kaum überspielen. Ihre Wangen brannten, ihre Atmung beschleunigte sich auf verräterische Weise.
Eine flüchtige Bewegung ließ ihren Kopf herumfahren. Aber Adam hatte sich lediglich Wassertropfen aus den Wimpern gewischt
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