Morgenrot
genossen sie zusammen die schon merklich länger werdenden Tage und beobachteten, wie das Grün immer üppiger wurde. Der Frühling war endlich da, und nichts sprach dagegen, länger hier zu verweilen und die Wunden heilen zu lassen.
Nur einmal durchbrach Adam in dieser Zeit die selbstgenügsame Schweigsamkeit. Sie legten gerade auf einer verwitterten Bank am Waldesrand eine Verschnaufpause ein, als er unvermittelt das Wort an sie richtete. Dabei klang seine Stimme ungewöhnlich ernsthaft: »Mir ist klar geworden, wie wichtig es für unsere Zukunft ist, dass du begreifst, was der Dämon in mir angerichtet hat.«
Vorsichtig warf Lea ihm einen Blick zu und beschloss, dass es das Beste war, sich zurückzuhalten und ihn reden zu lassen.
Denn sie spürte deutlich, dass sie vor einem Scheideweg standen.
»Der Dämon geht mit dem Menschen eine Symbiose ein: Er schenkt ewiges Leben und weitgehende Unverwundbarkeit. Außerdem enthebt er einen der Mühen des menschlichen Alltags. Aber er nimmt auch viel: Man ist nicht mehr Teil der Gesellschaft, es gibt keine Freunde und keine Familie. Das liegt zum einen an unserer neuen Natur ... Die Unsterblichkeit ist ein zweischneidiges Schwert, denn worauf richte ich mein Leben aus, wenn um mich herum alles vergeht, während ich selbst davon verschont bleibe? Was fange ich mit der unendlichen Zeit an, die mir zur Verfügung steht? Und dabei immer allein, abgesondert, entfremdet.«
Adam stockte, als sie sich neben ihm versteifte. Für einen Augenblick sah sie das seltsam entrückte Gesicht von Agatha vor sich, die der Unsterblichkeit entflohen war, indem sie die Vergangenheit und Gegenwart so lange durcheinandergewirbelt hatte, bis sie sich selbst ausgelöscht hatte. Ein verwirrendes Bild, das sie rasch beiseiteschob. Mit einem Nicken gab sie Adam zu verstehen, dass sie begriff, worauf er hinauswollte.
Erleichtert atmete Adam aus und zog das eine Knie bis unters Kinn. »Es fällt mir ausgesprochen schwer, dieses Gefühl zu beschreiben«, gestand er. »Ich habe mir die letzten Wochen immer wieder den Kopf zerbrochen, wie ich es dir schildern soll. Etienne wäre besser darin gewesen ... Was mich auf eine Idee gebracht hat: Kennst du Die Zerstörung von Charles Baudelaire?«
Er lächelte zögerlich, als er ihr Nicken sah. Dann begann er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme das Gedicht zu rezitieren:
Ohn Unterlass spür ich, wie mich der Dämon drängt, Wie regungslose Luft hält er mich rings umfangen, Ich fühl und schlucke ihn, wie er die Lungen sengt. Er füllt mein schuldig Herz mit ewigem Verlangen.
So führt er mich, vom Blick der Gottheit fern gebannt, Schwerkeuchend und erschöpft durchs weite Wüstenland Der toten Leere hin, in endlos grauen Stunden.
Vor meinen Augen, die Verwirrung dunkelt, sät
Zerfetzte Kleider er und aufgerissne Wunden
Und des Zerstörungswerks bluttriefend Schlachtgerät!
Als die letzten Worte verklangen, grub sich eine tiefe Falte in Leas Stirn. Das Gedicht hatte sie berührt, etwas in ihr zum Singen gebracht. Sie verspürte den dringenden Wunsch, Adam zu umarmen, ihm zu beweisen, dass sie ihm nah war. Stattdessen saß sie wie versteinert da und beobachtete ihn dabei, wie er sich das Gesicht rieb, als wolle er einen bösen Traum verscheuchen.
»Die erste Zeit nach der Verwandlung hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Plötzlich war da ein Raum in mir, den ich niemals würde betreten können, weil er nicht mir, sondern dem Dämon gehört. Und dieser Raum erhob sich zum Machtzentrum und bestimmte nach Gutdünken über mein Leben, legte Richtlinien fest, die sich vollkommen meinem Einfluss entzogen. Ich bin nicht mehr Adam, der Mensch. Ich kann niemals wirklich sagen, wer ich bin. Ich bin nicht mehr heil, denn ich gehöre nicht mehr mir selbst.«
Gequält schloss er die Augen, als wisse er nicht, wie er sich aus diesem Teufelskreis befreien sollte. Obwohl Lea mit ihm litt, rührte sie sich nicht, denn sie befürchtete, dass eine tröstende Geste ihn verstummen lassen könnte. So wartete sie bloß regungslos ab.
Mit leiser Stimme schloss Adam schließlich: »Egal, welche Entscheidung ich treffe, welchen Plan ich aufstelle, es spielt immer noch jemand mit, dessen Wege nicht die meinen sind. Aber damit werde ich leben müssen - das habe ich nun akzeptiert. Wenn ich nicht verharren oder mich tot stellen will, dann muss ich diesen Raum und seine Macht akzeptieren und trotzdem meinen Weg gehen. Ich denke, ich habe eine Entscheidung getroffen: Für den
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