Morgenrot
Aufforderung nach, obwohl sie befürchtete, in seiner unmittelbaren Nähe die Beherrschung zu verlieren und ihm auf den Schoß zu springen. Dass sie gemeinsam im Schein des Kerzenlichtes saßen, erschien ihr fast unwirklich.
»Ich vermute, Sie sind nicht von hier?«, fragte er in einem Ton, als gingen sie einem lockeren Small Talk auf einer Cocktailparty nach.
»Nein«, erwiderte Lea mit unangenehm hoher Stimme. »Ich bin von woanders.«
Nach diesem Höhepunkt der Unterhaltungskunst breitete sich ein Schweigen aus, das Lea ihr Unvermögen vor Augen führte. Bislang hatte sie es nie gestört, nicht zu den großen Verführerinnen ihres Geschlechts zu zählen. Aber gegenüber einem schlicht umwerfenden Mann dermaßen kläglich zu versagen war mehr, als sie verkraftete.
Sterbenselend kauerte sie auf dem Sofa, während sich Minuten zu gefühlten Stunden ausdehnten. Die Augen auf das Flammenspiel im Kamin gerichtet, aber die Ohren gespitzt, damit ihr nur nicht die leiseste Bewegung dieses Mannes entging. Die Situation war so verwirrend, dass es sie nicht überrascht hätte, wenn er sich als eine Art Fata Morgana entpuppte.Wenn sie jetzt zum Klavier hinüberschauen würde, dann läge auf dem Schemel sicherlich nur eine Spur Engelstaub, versuchte sie sich aufzumuntern. Sie wagte es jedoch nicht, den Blick vom Feuer abzuwenden.
In dem Moment, als mit einem Mal alle Lichter wieder aufleuchteten, ging die Zimmertür schwungvoll auf, und Professor Carriere trat mit einer kleinen Studentenschar ein, die sich staunend im Salon umsah. Eine von ihnen war Jazna, mit der Lea sich schon öfter nach den Vorlesungen unterhalten hatte. Sie hatte Jazna ein Kompliment über deren langes Haar gemacht, wodurch das Eis schnell gebrochen war. Sie hatten sich sogar zum Kaffeetrinken und Plaudern über Uni-Angelegenheiten getroffen. Doch nun streifte der Blick der jungen Frau sie nur flüchtig, sie fand nicht mal die Zeit für ein kurzes Nicken, da ihre ganze Aufmerksamkeit dem Mann beim Klavier zuflog. Sieh an, dachte Lea. Offensichtlich übt er nicht nur auf mich eine solche anziehende Wirkung aus.
Lea kam jedoch nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken zu machen, denn Professor Carriere schritt gut gelaunt und mit weit vorgestreckter Hand auf sie zu.Wie in Zeitlupe erhob sie sich, wobei die aufgeregten Stimmen der Gruppe ihr regelrecht in den Ohren dröhnten.
»Meine Liebe«, sagte Professor Carriere mit der für ihn typischen singenden Stimme und gab ihr die Hand. »Sind diese ständigen Stromausfälle nicht skurril?« Wie immer ließ seine elegante Erscheinung Lea kurz vor Ehrfurcht erstarren und löste damit den Zauber auf. Die Welt der Universität und des Studiums hatte sie wieder.
Trotz seiner ansehnlichen Körpergröße war Professor Carriere von eher zierlicher Statur, und seine Bewegungen zeichneten sich durch eine seltsame Mischung aus Anmut und Zähigkeit aus, die Lea bisher nur bei passionierten Tänzern beobachtet hatte. Dazu passten auch das graue, kurz geschorene Haar, das asketische Gesicht und der zurückhaltende Kleidungsstil.
Professor Carriere, der eine ausgesprochen höfliche und angenehme Person war, wurde von allen mit Respekt behandelt. Seine Freundlichkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einem hochgebildeten und willensstarken Mann zu tun hatte. Lea kannte jede seiner Publikationen und wusste nur zu gut, dass Professor Carriere ein brillanter Literaturwissenschaftler war. Der Mann war mehr als leidenschaftlich bei dem, was er tat - sowohl als Wissenschaftler als auch als Dozent. Letztendlich war er der ausschlaggebende Grund gewesen, warum Lea sich für diese eher untypische Universitätsstadt entschieden hatte.
Lea schätzte Professor Carrieres Freundlichkeit und Fachwissen, aber da war noch mehr, was sie faszinierte: Normalerweise hielt sie Distanz zu ihren Dozenten, doch Professor Carriere brachte jedem einzelnen seiner Studenten solch ein persönliches Interesse entgegen, dass man sich ihm unmöglich entziehen konnte. Deshalb rang sich Lea nun zu einem Lächeln durch, als sie ihn ebenfalls begrüßte.
»Hat Adam sich gut um Sie gekümmert?«, fragte Professor Carriere und deutete in Richtung des schweigsamen Mannes, der Leas Welt soeben auf den Kopf gestellt hatte. Als Leas halbherziges Lächeln ins Rutschen geriet, nickte er wissend. »Wohl eher nicht, wie ich ihn kenne. Du hättest der jungen Dame wenigstens etwas auf dem Klavier vorspielen können, wenn du Konversation für
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