Morgenrot
an. »Sie müssen entschuldigen, ich bin eben elf Stockwerke zu Fuß hochgelaufen. Geben Sie mir bitte einen Moment.« Völlig selbstverständlich rutschte ihr die Flunkerei über die vor Aufregung zitternden Lippen.
Erleichtert hörte sie ein leises Lachen vom anderen Ende der Leitung.
»Ich möchte Sie heute ins Dekadenz zum Abendessen einladen, meine Liebe. Das Friedrich-Gemälde, über das Sie gestern gesprochen haben, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich ist schon so vieles über die Bedeutung des Mönchs am Meer für die Romantik gesagt worden, trotzdem würde ich gern da weiter ansetzen. Ich dachte mir, wir treffen uns und lassen den Gedanken freien Lauf.Was meinen Sie?«
Lea nickte begeistert. Als sie begriff, dass Carriere auf ihre Antwort wartete, überschlug sich ihre Stimme beim »Unbedingt!« fast vor Eile.
Den restlichen Tag überließ sie sich dem berauschenden Sog, in den Adam sie am Abend zuvor gestürzt hatte.
Lea konzentrierte sich auf Professor Carrieres auf- und zuklappenden Mund. Es konnte doch nicht so verflucht schwer sein, wenigstens einige Worte aufzufangen. Sie hatte nicht den Anschluss an dieses Gespräch verloren, nein, sie hatte schon den Einstieg verpasst. Betäubt saß sie da, die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben und minimales Interesse heuchelnd.
Glücklicherweise verstand Professor Carriere unter einer netten Plauderei einen von ihm gehaltenen Monolog. Vis-ä-vis mit einer, für die Verhältnisse im Dekadenz, reizlos zurechtgemachten Studentin. Dabei hatte Lea in einem Anfall von Wahn die wenigen Kleidungsstücke, die sie für das Auslandssemester mitgenommen hatte, so lange miteinander kombiniert, bis ein einigermaßen akzeptables Outfit dabei herausgekommen war. Nun, zumindest hätte sich der eng anliegende Rollkragenpulli zusammen mit der Jeans gut in einer Studentenkneipe gemacht.
Erneut schluckte Lea die Verzweiflung hinunter. Dabei war es nicht die zweideutige Situation, allein mit ihrem Professor in einem der besten Restaurants der Stadt zu sitzen, die Lea bekümmerte. Als sie zum dezent abseits stehenden Tisch geführt worden war, der eine Aussicht auf das Labyrinth des Straßennetzes bot, hatte sie enttäuscht festgestellt, dass nur für zwei Personen gedeckt worden war.
Die Enttäuschung war sogar so groß gewesen, dass Lea am liebsten wieder gegangen wäre, um zu Hause ausgiebig in ihr Kissen zu schluchzen. Auf diese Art verarbeitete sie seit Kindheitstagen alle Reinfälle, die das Leben ihr bot. Doch dann hatte sie einmal tapfer geschluckt und sich eingestanden, dass Adam an diesem Essen nicht teilnehmen würde.
Kaum hatte der Kellner Lea mit einer galanten Geste an den Tisch geschoben, war Professor Carriere erschienen, hatte ihr die Schulter getätschelt und, noch während er sich setzte, mit seinem Vortrag begonnen. Nur zur Bestellung hatte er eine Pause eingelegt und mit einer generösen Geste Lea die Auswahl überlassen, was sie mittlerweile beide zutiefst bereuten.
Eigentlich war Lea auf die Situation vorbereitet gewesen: Auf ihrem Zimmer hatte sie gewissenhaft die Frage »Was würden Sie uns heute empfehlen?« nachgeschlagen. Sie hatte nichts von der Antwort des Obers verstanden - das von einem schweren Akzent durchwirkte Französisch schien sogar Professor Carriere vor ein unlösbares Rätsel zu stellen -, dennoch hatte sie tapfer gelächelt und mit einem »wunderbar« geantwortet.
Nachdem die kristallisierte Kürbissuppe und die in Gelee verwandelten Garnelen überstanden waren, hatten ihr die neben Rote-Bete-Schaum drapierten Wachtelteilchen samt dem zu einem Miniaturfächer gebundenen Schnittlauch den Rest gegeben. Sie fühlte sich heillos überfordert, und obwohl ihr Magen laut und deutlich vor Hunger knurrte, schob sie den kaum angerührten Teller diskret von sich. Noch eine moderne Geschmacksbombe, und sie würde sich draußen Schnee in den Mund schaufeln müssen, befürchtete Lea.
Professor Carriere lächelte ebenfalls gequält. »Sie haben auch eine spezielle Karte für regionale Spezialitäten, aber die rücken sie nur ungern heraus. Man isst hier halt en vogue. Vielleicht sollten wir uns später unten an der Ecke noch eine Portion Piroggen mit Pilzen und Sauerkraut holen.«
Lea nutzte Carrieres kulinarische Verunsicherung, um sich kurz in den Waschraum zurückzuziehen. Im Vestibül, der eine groteske Mischung aus fatalem Barockverständnis und dem Schönsten, was der hiesige Kristallhandel zu bieten hatte, darstellte, ließ sie
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