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Morgenrot

Morgenrot

Titel: Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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überflüssig hältst«, sagte er, dem jungen Mann zugewandt, der sich immer noch nicht bewegt hatte. »Sie müssen wissen, Adam ist ein schrecklicher Mensch, meine liebe Lea. Ein Zyniker der schlimmsten Sorte. Er passt hervorragend zum hiesigen Wetter. Wahrscheinlich strapaziert er meine Gastfreundschaft deshalb schon seit einer halben Ewigkeit.«
    Etwas in Professor Carrieres Ton ließ darauf schließen, dass seine Kritik gegenüber Adam nicht ernst gemeint war. Daher war es auch nicht weiter verwunderlich, als vom Klavier her nur ein leises Lachen drang, das dafür sorgte, dass Leas Magen einen formvollendeten Looping vollführte.
    Die Gruppe hatte in einem Halbkreis Stühle vor dem Kamin aufgestellt, und die Diskussion war im vollen Gange. Von allen Richtungen aus versuchte das Kolloquium, sich dem Begriff der Romantik zu nähern, aber viel mehr noch bemühte sich jeder einzelne Student, sich vor Professor Carriere zu profilieren. Genau wie Lea hatten sich die anderen bestens auf diesen Abend vorbereitet, der von Carriere selbst als »lockere Runde« bezeichnet wurde. Allerdings war klar, dass jeder, der heute Abend nicht intellektuell glänzen würde, mit keiner weiteren Einladung zu rechnen brauchte.
    Lea hatte sich längst damit abgefunden, dieses schöne Haus nie wieder zu betreten. Seit der Begegnung mit Adam gelang es ihr kaum, einen Beitrag zu der anspruchsvollen Debatte beizusteuern. Unverändert war sie von der Anziehungskraft in Anspruch genommen. So kam es, dass - anstatt ihr umfassendes Wissen über die Epoche der Romantik unter Beweis zu stellen - sie vollauf damit beschäftigt war, das Atmen nicht zu vergessen. Nur weil in dieser Runde ein höflicher Umgangston herrschte, war sie noch nicht wegen mangelnder Beteiligung des Raumes verwiesen worden.
    Gelegentlich traf sie ein fragender Blick von Jazna, die sich Adams Zauber offensichtlich wieder hatte entziehen können, sobald es um ihre Universitätskarriere ging. Mit den Lippen formte Jazna die Worte »Was ist los?«, doch Lea konnte nur stumm den Kopf schütteln. Sie wusste es ja selbst nicht.
    Irgendwo in der Tiefe des Raumes zog Adam seine Kreise. Gelegentlich glaubte Lea, ein Rascheln der Vorhänge zu hören, so, als beobachtete er das erneut eingesetzte Schneetreiben. Professor Carriere hatte ihn eingeladen, sich zu ihnen zu setzen, aber er hatte nur ein gleichgültiges »vielleicht später« erwidert. Dass er trotzdem nicht das Zimmer verließ, trieb Lea schier in den Wahnsinn. Und wenn sie sich nicht allzu sehr täuschte, erging es Carriere ähnlich: Immer wieder suchte sein Blick den Salon ab, und sein Gesicht zeigte eine Spur von Irritation.
    »Die Frage nach der Seele ist sicherlich von großer Bedeutung, oder was denken Sie?« Professor Carriere hatte das Wort direkt an Lea gerichtet.
    Erschrocken suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer passenden Entgegnung. »In der Romantik führt der geheimnisvolle Weg ins Innere«, begann sie, während sie noch ihre Gedanken sortierte. »Die Malerei zeigt das sehr schön: Der Künstler erspürt das Werk in sich. So sagt es jedenfalls Caspar David Friedrich, dessen Gemälde Der Mönch am Meer das vielleicht bekannteste Bild der Romantik ist.«
    Ehe Lea fortfahren konnte, wurde sie von Boris unterbrochen, dessen stets angriffslustiger Unterton suggerieren sollte, dass Lea falsch-und er auf jeden Fall richtiglag. Denn Boris lag immer richtig. »Ich halte nicht viel von dieser Vermischung der Künste, wenn es um Begrifflichkeit geht«, sagte er einen Tick zu laut und unterstrich seine Aussage mit großzügigen Gesten. »Die Literatur lässt sich nicht mit der Malerei erklären. Wozu denn definieren wollen, wenn man alles mit allem erklären kann?«
    Lea wollte ihm schon widersprechen, da ertönte hinter ihr Adams voll klingende Stimme: »Jemandem, der sich für den Geist der Romantik interessiert, sollte es eigentlich schwerfallen, glasklare Grenzen zu ziehen. Der Mönch am Meer ist doch ein wunderbares Beispiel. Man könnte sogar behaupten, dass er fast alles in sich trägt, was die Romantik ausmacht.«
    Verwirrt drehte Lea sich um und sah Adam unvermittelt in die Augen. Sie waren schmal geschnitten, Katzenaugen, von dichten Wimpern umkränzt, die Iris von einem dunklen Grün. Wie ein von Bäumen beschatteter See, dachte sie entrückt, während ihre universitär geschulte Zunge fragte: »Warum nur fast?«
    Adam schaute sie unverwandt an, während das belustigte Lächeln schlagartig aus seinem Gesicht

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