Morgenrot
verschwand. »Weil es die dunkle Begierde lediglich andeutet.«
2. Blaue Stunde
Es war die beißende Schärfe der Frostluft, die sie am nächsten Tag weckte. Langsam öffnete Lea die Augen und blinzelte in die dunstverhangene Morgensonne. Hinter ihrer Stirn tobte das Traumkino der Nacht weiter, jagte ein verstörendes Bild nach dem anderen über die Leinwand, so dass ihr schwindelig wurde, obwohl sie flach auf dem Rücken lag. Sie wurde verfolgt, ergriffen, herumgerissen, überwältigt,immer und immer wieder, bis sie kaum noch Luft zum Atmen fand. Doch die Furcht ums nackte Überleben hatte sich mit einer Lust am Ausgeliefertsein gepaart. Und der Erregung, wenn alles um sie herum in Dunkelheit versank. Ein unbeschreibliches Verlangen, wenn schon vernichtet, dann doch wenigstens gefunden worden zu sein.
All dies hinterließ beim Erwachen eine seltsame Empfindung. Was hatte ihre Fantasie da nur zusammengewürfelt?, fragte Lea sich und versuchte, die Eindrücke der Nacht zu verdrängen. Dabei verflüchtigten sich diese wie ein Wolkenbild, das eben noch deutlich den Umriss eines Gesichts gezeigt hatte und im nächsten Moment nichts weiter als angehäufte Watte aus Blau und Weiß war.
Erstaunt bemerkte Lea, dass sie komplett angezogen auf der Matratze in ihrem kleinen Zimmer lag. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Sie konnte von Glück sagen, dass der Heizkörper tapfer der hereinströmenden Eiseskälte entgegenbollerte. Ansonsten hätte sie sich zumindest von Zehen und Nasenspitze verabschieden dürfen.
Verwirrt setzte Lea sich auf und tastete ihre Erinnerung behutsam nach den Geschehnissen des letzten Abends ab. Sie hatte weder eine Idee, wie die Diskussion geendet hatte, noch eine Erinnerung an die Verabschiedung. Ihr Körper hatte einfach auf Autopilot geschaltet. Wie in Trance war sie durch die weißen Schneemassen nach Hause getaumelt, den Kopf im Sternenhimmel und das Herz ein tiefer erdiger Schlag, dessen Vibrationen Welten erzittern ließen.
Erst die Kälte brachte die Bilder des vergangenen Abends allmählich zurück. Adams Geruch war dem des Frostes ähnlich gewesen, als er während der Diskussion dicht neben ihr gestanden hatte. Kalt und klar hatte er geduftet, als sie ihm in die Augen geblickt hatte.
Was hatte sie in seinen Augen gesehen?
Mit einem Schlag war es Lea so heiß, als hätte sie das Fenster niemals geöffnet. Schwer atmend kam sie auf die Füße. Ein Bild blitzte auf, aber sie bekam es nicht zu fassen. Voller Staunen schaute sie auf das Unbeschreibliche, das ihr aus diesen grünen Augen entgegengeblickt hatte und dem sie versuchte, eine Form zu geben. Stattdessen entzog sich ihr das Bild und ließ eine schmerzend leere Stelle zurück. Wenn sie nicht aufpasste, würde ihr der Zauber, der in diesem Blick gelegen hatte, verloren gehen.
Verzweifelt gestand sich Lea ein, dass sie keine passenden Worte für den Moment fand, als Adam ihren Blick erwidert hatte. Es schien so, als höre er deshalb auf zu existieren und würde zu einer bloßen Traumgestalt. Als wäre es ein Rettungsanker, langte Lea nach einem abgegriffenen Gedichtband von Edgar Allen Poe, in dessen Leineneinband vor Jahren ihr Hund Rüben einen Abdruck seiner Zähne hinterlassen hatte. Mit zitternden Fingerspitzen fuhr sie über die Zeilen:
And all the way along
Amid empurpled vapors, far away
There where the prospect terminales - thee only.
Es gelang den Versen, das Zerren in Leas Innerem zu besänftigen. Noch ein wenig wackelig auf den Beinen, schloss sie das Fenster und setzte sich wieder auf die Matratze, wobei sie Poes magische Worte wie ein Mantra leise wiederholte.
Während sie nach dem Grund dieser uferlosen Sehnsucht forschte, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wann und wo sie Adam wiedersehen würde. Nach der kurzen Unterhaltung hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Vielmehr glaubte Lea, dass Adam noch vor der allgemeinen Verabschiedung verschwunden war.
Sie hing diesem verstörenden Gedanken nach, als plötzlich ihr Handy klingelte. Hektisch suchte sie den Raum ab, bis ihr klar wurde, dass das dröhnende Gerät sich in der Seitentasche ihres Parkas befand, den sie immer noch trug.
»Ja?«, meldete sie sich atemlos.
»Guten Morgen, Lea.« Professor Carriere versuchte gar nicht erst, den belustigten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt?«
Lea kniff sich heftig ins Nasenbein.Tief einatmen, verdammt!, feuerte sie sich selbst
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