Morgenrot
Normalerweise wäre sie bestrebt gewesen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie konnte diese dämonische Finesse nicht ausstehen. Aber an diesem Abend war sie zu erschöpft gewesen, um Widerstand zu leisten. Und so brach Adams Zauber erst, als Megan sich nicht aus dem Hotelzimmer verdrängen ließ.
»Nein, ich werde bleiben, bis Adam die Gelegenheit findet, sich Ihnen wieder zuzuwenden«, hatte Megan roboterhaft wiederholt, während sie entnervt mit den Augen geblinzelt hatte. Dabei hatte Megan ähnlich derangiert gewirkt wie Lea. Offensichtlich waren die letzten Stunden auch nicht ganz nach ihrem Geschmack gewesen.
Was hatte Adam bloß in dieser Unperson zum Klingen gebracht, dass sie sich einfach nicht abschütteln ließ, Loyalität hin oder her! Lea war ratlos.Warum kroch Megan nicht einfach auf allen vieren zu Pi zurück und winselte um Vergebung, statt immer weiter in Ungnade zu fallen?
Nachdem Lea ihre restliche Energie, das ihr der Tag noch gelassen hatte, in einen Wutanfall investiert hatte, war sie auf dem Bett zusammengebrochen, ohne dass Megan ihren Wachposten aufgegeben hätte. Das gibt Rache, hatte sie sich noch geschworen, dann war sie in einen traumlosen Schlaf gefallen.
Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich mit einem Satz hoch, als hätte ihr jemand direkt ins Ohr geschrien. Die Katze, die zusammengerollt auf ihrer Brust geschlafen hatte, fiel vom Bett und verzog sich beleidigt in eine dunkle Ecke. Als Lea die Nachttischlampe anknipste, fiel der Lichtkegel zwar nicht auf einen wartenden Adam, dafür aber auf eine Schachtel mit Thunfisch-Pizza. Die ist mir jetzt sowieso viel lieber, dachte Lea nachtragend und machte es sich in einem Sessel bequem.
Während sie das kalte Fast Food hinunterschlang, tastete ihr Gedächtnis im Rückwärtslauf die Ereignisse des letzten Tages ab. Als sie bei Pis unausgesprochener Drohung angekommen war, Nadine auf die Finger zu klopfen, sprang ihr Herz dermaßen die Kehle hoch, das es mit einem Stück vom Pizzarand kollidierte. Einen Augenblick lang glaubte Lea, ersticken zu müssen, und nichts anderes hätte sie eigentlich auch verdient, sagte sie sich. Sie war so vollkommen mit ihrem eigenen Drama beschäftigt gewesen, dass sie das Wohlergehen ihrer besten Freundin vergessen hatte. Jene Freundin, die bloß in die Schusslinie geraten war, weil sie ihr hatte helfen wollen.
Nadine! Du hast nur eine einzige Freundin und schaffst es nicht, dich um sie zu kümmern. Du hast diesen kaltschnäuzigen Bastard namens Adam so etwas von verdient ... Echte Menschen mit Gefühlen sollten einen weiten Bogen um dich machen, denn bei dir kann man sich ja nur eine blutige Nase holen. Himmel, wie hatte das nur passieren können? Wäre sie eine Romanfigur, würde sie jetzt jede Leserin hassen. Denn wer wegen eines Kerls einfach die beste Freundin vergaß, hatte mindestens das Fegefeuer verdient.
Nachdem der Schwall an Selbstbeleidigungen allmählich wieder abflaute, wurde Lea klar, dass sie besser handeln als lamentieren sollte.
Das waren die Fakten:
Sie hatte Adam nichts von Pis Drohung gegen Nadine erzählt - Fakt.
Megan würde kaum bereit sein, ihr in dieser Angelegenheit behilflich zu sein - Fakt.
Sie konnte Megans Handy nicht benutzen, um bei Nadine anzurufen - Fakt.
Aber sicherlich den Münzsprecher in der nächsten Eckkneipe ... So ein Anruf ließ sich doch nicht rasch orten, oder? Und wenn, war es auch egal. Schließlich hatte sie nicht vor, noch ein Bier an der Theke zu trinken. Was für ein paranoider Gedanke, der könnte direkt von Adam stammen, dachte Lea griesgrämig. Sie selbst befürchtete nämlich nicht ernsthaft, dass sich einer von Pis Spießgesellen an ihre Fersen geheftet hatte. Bestimmt würde es Pi viel mehr Freude bereiten, seine Wut direkt an Adam auszulassen. Vielleicht hatte er Adam schon längst - mit einer Schleife versehen - dem großen Unbekannten als Opfergabe dargeboten, während sie hier Zeugenschutzprogramm mit Megan spielte.
Anscheinend schien Megan die Lage ähnlich einzuschätzen. Sonst würde sie wohl kaum selig schlafen, sondern mit einem halb geöffneten Auge an der Zimmertür hängen, in den Händen die entsicherte Waffe, die sie in Leas Wäschelade gefunden hatte. Schließlich war die gute Megan ja das Pflichtbewusstsein in Person.
Lautlos schlüpfte Lea in ihre Schuhe, griff sich Mantel und Schal. Ihre Augen flitzten zu der kleinen Automatikwaffe, die Megan nachlässig auf dem Nachttisch hatte liegen lassen.
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