Morgenrot
albern die ganze Aktion war, als sie plötzlich einen verzerrten Schrei hörte. Okay, dachte sie irritiert, der Kerl ist noch aktiv - also ab zu Kaffee und Croissants. Aber die Gänsehaut auf ihren Unterarmen, die nicht die Kälte hervorgerufen hatte, ließ sie innehalten.
Der Schrei war hier draußen nur schwach zu hören gewesen, mehr ein spitzes Aufkeuchen. Was weißt du schon über Lustschreie?, zog sie sich selbst auf. Du bist die Frau, deren Liebster sich mit Stolz geschwellter Brust rühmt, sich ihr zu verweigern. Trotzdem gelang es ihr nicht, ihren jähen Stimmungswandel zu ignorieren. Obwohl die kalte Nachtluft sie weiterhin bibbern ließ, pulsierten ihre Fingerspitzen und zwischen ihren Schulterblättern bildete sich ein glühendes Dreieck.
Sie atmete tief ein und kroch auf alle vieren zum Sims unter dem Fenster.Vorsichtig hob sie den Kopf so weit an, dass sie über den Fensterrand sehen konnte. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie versteinern. Es war, als befinde sich Lea in einer Luftblase, in der Zeit und Raum eingefroren waren, während der Rest der Welt dank einer Zeitmaschine einen magischen Schritt nach vorn machte.
Ein dunkles Paar Augen auf der anderen Seite der Scheibe brachte die Luftblase schließlich zum Platzen. Sie war entdeckt worden. Denn ohne es zu bemerken, hatte Lea sich aufgerichtet und stand nun inmitten des Lichtpegels. Das dunkle Augenpaar war direkt auf sie gerichtet und in ihm schwang eine freudige Erregung, die so gar nicht zu dem blutverschmierten Lächeln passen wollte, das Macavity ihr zuwarf.
Mit einer ungeahnt zielsicheren Bewegung fischte Lea die Waffe aus der Seitentasche, ehe sie den Mantel abstreifte. Obwohl ihre Gedanken rasten, nahm sie sich die Zeit, die kalte Glätte des Laufs zu registrieren, dann legte sie beide Hände um den Schaft. Während sie die Arme ausstreckte und zielte, machte sie einige Schritte nach hinten.
Macavitys Blick hielt sie weiterhin gefangen, und die Mischung aus ungezügelter Neugierde und dem Fehlen jeglicher Angst oder Scham, die ihr aus seinen Augen entgegenfunkelte, hätte Lea normalerweise sofort in die Flucht geschlagen. Doch der Teil ihres Ichs, der für ieeliche Art von Gefühlsreeune zuständie war. hine weiterhin schockeefroren in der Zeitblase fest.
Lea beobachtete, wie Macavity die Mundwinkel zu einem Grinsen hochzog und die Zunge genießerisch über die Oberlippe fahren ließ. Aber sie sah auch, wie sich seine Muskeln in Schultern und Oberarmen anspannten. Bevor er zum Sprung ansetzen konnte, krümmte sich Leas Zeigefinger um den Abzug.
Zuerst spürte sie nur den Rückstoß der Waffe in den Unterarmen, den sie gekonnt in ihr zurückgesetztes Standbein umleitete. Dann dröhnte der Schuss in den ungeschützten Ohren, gefolgt vom Klirren des berstenden Fensterglases. Lea atmete tief ein und zwang sich, die Luft einen Moment länger als nötig in den Lungen zu halten.
Macavity war nicht mehr zu sehen. Nur das erleuchtete Schlafzimmer.
Kurz kniff Lea die Augen zusammen und entspannte die Armmuskulatur, dann richtete sie die Waffe erneut aus. Zielstrebig ging sie auf dasFenster zu und verschaffte sich einen Überblick: Mitten im Raum stand das große Futonbett, auf dem Nadine ausgestreckt lag. In ihren offenen Haaren hatten sich unzählige Glassplitter verfangen und in der nackten Schulter hatte eine einzelne Scherbe die Haut geritzt. Doch im Vergleich zum Rest des Körpers sah die Schulter relativ unversehrt aus.
Nadine schob mühsam den Kopf in den Nacken und starrte mit leeren Augen auf das zerstörte Fenster. Dabei bemerkte sie Lea, und nach einigen, unendlich langen Sekunden erkannte sie sie auch. Verzweifelt versuchte Nadine, ein Stöhnen auszustoßen, doch der Knebel in ihrem Mund dämpfte das Geräusch.
Lea nickte ihr kurz zu, dann suchte sie den Bereich vor dem Bett ab. An der gegenüberliegenden Wand befand sich auf der Höhe, wo eben noch Macavitys Kopf zu sehen gewesen war, ein dunkler Fleck. Darunter lag Macavity auf der Seite und sah merkwürdig verdreht aus. Er lag mit dem Rücken zu ihr, so dass sie nicht erkennen konnte, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Aber sie hatte ihn nicht nur getroffen, sondern regelrecht von den Füßen gerissen. Während Lea noch die Blutlache beobachtete, die sich unter seinem Kopf ausbreitete, zuckte sein nackter Körper, bis er endlich reglos liegen blieb.
Mit der Schuhsohle trat Lea einige hervorstehende Glasreste aus dem Fensterrahmen und kletterte dann vorsichtig über den
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