Morgenrot
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Nachdem sie aus Etienne Carrieres Haus geflohen war, hatte die Angst sie fast in den Wahnsinn getrieben. Sie war wie eine Schlinge um den Hals gewesen, die sich von Tag zu Tag mehr zugezogen hatte. Als sie schließlich kaum noch Luft bekommen hatte, hatte Lea sich mit letzter Kraft zum Handeln entschlossen.
Da sie trotz all der Schrecken um sie herum nicht vorgehabt hatte, ein vollkommen neues Leben in fernen Landen zu beginnen, hatte sie sich an Selbstverteidigung versucht: Wing Chun, Boxen ... Bei allem, was ihren Körper in eine Waffe verwandeln sollte, hatte sie allerdings kläglich versagt. Weder legte sie den rechten Biss an den Tag noch besaß sie die notwendigen Instinkte. Dann hatte sie jedoch Schusswaffen für sich entdeckt. Ihr gefiel der Gedanke, dass der Angreifer bei dieser Kunst gar nicht erst die Chance bekam, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen.
Bevor Lea sich versah, hatte sie die Waffe an sich genommen und fand sich einige Minuten später in einem Telefonhäuschen drei Straßen vom Hotel entfernt wieder. Die Straßen waren menschenleer, was um diese Uhrzeit und in einer solchen Gegend auch kaum verwunderlich war. Trotzdem wäre es Lea lieber gewesen, wenn zumindest ein Pärchen vorbeigehuscht wäre oder jemand seinen Hund ausgeführt hätte. Die lichterlosen Wohnblocks, die sich dicht an dicht aneinanderreihten, verstärkten ihre Nervosität auf unangenehme
Weise, als sie mit klammen Fingern Nadines Handynummer wählte. Es klingelte ein paar Mal, und Lea befürchtete schon, gleich die Mailbox dran zu haben, als plötzlich abgehoben wurde.
»Nadine?«, rief Lea erleichtert.
»Is' gerade ungünstig«, antwortete Nadine. Obwohl sie ausgesprochen leise redete, konnte Lea das Nuscheln in ihrer Stimme heraushören. Nadine war eindeutig angetrunken. Wie wunderbar! Wenn sie um zwei Uhr morgens betrunken ans Handy ging, dann war wohl alles okay.
»Hör mir zu, ich muss unbedingt mit dir über Pi sprechen«, sagte Lea, wobei sie Probleme hatte, ein erleichtertes Lachen zu unterdrücken.Sie fühlte sich, als hätte sie eben das letzte Weihnachtsgeschenk ausgepackt, das zu ihrer Überraschung den größten ihrer Herzenswünsche enthielt.
»Ja, das kannst du auch, Süße«, erwiderte Nadine kurz angebunden. »Aber bitte erst morgen.«
Ehe Nadine auflegen konnte, brüllte Lea ein »Warte!« in den Hörer. Ein scharfes Einatmen zeigte ihr, dass ihre Freundin vor Schreck ein wenig nüchterner geworden war.
»Lea, jetzt hör mir mal zu: Diese Gruselgeschichten können bis morgen warten«, sagte Nadine gereizt. »Ich habe einen absolut leckeren Fisch an der Angel, der gerade unsere Rechnung an der Bar begleicht. Danach werde ich den Kerl auf der Rückbank des Taxis besteigen und anschließend noch einmal bei mir zu Hause. Und wenn er morgen beim Aufwachen immer noch da sein sollte, gibt es eine Zugabe. Nachdem ich geduscht und gefrühstückt habe, darfst du anrufen und mich mit diesem Mist heimsuchen, okay?« Mit diesen Worten legte Nadine auf.
Entgeistert starrte Lea noch eine Zeit lang den piependen Hörer in ihrer Hand an, schließlich hängte sie ihn ein. Sie setzte sich auf den Bordstein, zog die Knie unters Kinn und dachte nach.
Wenn Nadine gerade dabei war, ihre sexuellen Bedürfnisse zu zelebrieren, dann spürte sie wohl kaum Pis Würgegriff um den Hals. Lea konnte also getrost das Morgengrauen abwarten und dann mit Megan sprechen, die wiederum mit Adam reden würde, der daraufhin ... ja, was würde Adam daraufhin unternehmen? Eigenhändig Nadines Koffer packen und sie im Hotelzimmer nebenan einquartieren? Unwillkürlich zwängte sich Lea das Bild der beiden auf, wie sie sich, zwei aufgepeitschten Kampfhähnen gleich, in ihrer Küche gegenübergestandenhatten. Wahrscheinlich würde es Lea harte Überzeugungsarbeit kosten, ehe Adam sich als Nadines Retter die Hände an ihr schmutzig machen würde. Und die Hände würde er gewiss einsetzen müssen, allein schon, um Nadine den Mund zuzuhalten, wenn sie ihn zum Teufel wünschte.
Während Lea widerwillig Adam von der Liste möglicher Retter strich, bemerkte sie kaum, wie die Kälte sich durch ihre Kleidung schon eine halbe Ewigkeit gedankenverloren am Straßenrand hockte. Mühsam kam sie wieder auf die Beine und hopste einige Male auf und ab, bis der Motor ihrer inneren Energiequelle ansprang.
Trotz der anhaltenden Dunkelheit glaubte sie, dass der Morgen bereits angebrochen war. Mittlerweile dürfte aus
Weitere Kostenlose Bücher