Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Briefbeschwerer kommen. So viele Päckchen waren gar nicht mehr übrig. Er wurde unruhig. Weder Gott noch Opa traute er einen Fehler zu, aber man konnte ja nie wissen. Fieberhaft riß er die restlichen Päckchen auf. Kein Briefbeschwerer.
Gaylord weinte nicht oft, und wenn, dann nur aus Gründen der Taktik. Aber jetzt weinte er ehrlich. Die Vorstellung, daß er jeden Augenblick Alleinbesitzer eines so blankpolierten Wunders hätte sein können, war herrlich aufregend gewesen. Um diese Vision betrogen zu werden, war unerträglich. Er weinte hemmungslos.
«Gaylord weint», sagte Mummi und stützte sich auf den Ellbogen. «Geh doch mal und sieh nach, was er hat.»
«Den Teufel auch», sagte Paps, aus den Kissen auftauchend. «Fröhliche Weihnachten, Schatz.» Er gab ihr einen Kuß, rollte sich aus dem Bett, kletterte in Morgenrock und Hausschuhe und taumelte ins Kinderzimmer. Ihm fiel ein, daß heute Weihnachten war und daß er die nächsten achtzehn Stunden herzlich und jovial zu sein hatte. Da konnte er ja gleich damit anfangen. «Was? Unser Gaylord in Tränen? Und das an seinem Hochzeitstag?» scherzte er übertrieben munter, wie es sich für diese Sieben-Uhr-Morgen-Party gehörte.
Gaylord schniefte. «Ist gar nicht mein Hochzeitstag.» Sein Gesichtchen heiterte sich etwas auf. «Oder doch?» fragte er voller Hoffnung.
«Nicht so richtig», gestand Paps. «Wir haben leider keine passende Braut für dich gefunden. Warum weinst du denn?» fragte er.
«Ich habe keinen Briefbeschwerer bekommen», sagte Gaylord.
«Doch, natürlich», versicherte Paps voller Überzeugung. Verflixt, er hatte ihn doch selbst hineingesteckt.
«Wo denn?» fragte Gaylord schmollend.
Paps begann, in dem Papierhaufen, in dem er und Gaylord bis zu den Knien standen, herumzuwühlen. Er fand den Hirsch. «Na und, was ist denn das?» fragte er triumphierend.
«Keine Ahnung», sagte Gaylord. «Was soll das denn sein?»
Paps seufzte. «Die Frage war rein rhetorisch.»
«Was ist rhetorisch?»
«Laß das mal jetzt», lenkte Paps ein. «Das ist dein Briefbeschwerer.»
«Das ist aber kein Briefbeschwerer. Das ist ein Pferd mit Bäumen.»
«Ein Hirsch ist das.»
«Du hast aber gesagt, es ist ein Briefbeschwerer.»
Paps wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab. «Er ist ja ganz naß», sagte er überrascht.
«Ich hab versucht, ihn in der Badewanne schwimmen zu lassen. Ist gleich untergegangen», sagte Gaylord vorwurfsvoll.
Du lieber Himmel, dachte Paps. Was für eine Unterhaltung morgens um sieben. «Natürlich geht er unter», schrie er. Weihnachten, ermahnte er sich. Friede auf Erden. Geduldig erklärte er: «Wenn du etwas in der Badewanne schwimmen lassen willst, dann gibt es kaum etwas weniger Geeignetes als einen Briefbeschwerer.»
«Ich wollte ihn ja gar nicht in der Badewanne schwimmen lassen.»
«Aber du hast doch gerade gesagt...»
«Wenn man etwas bekommt, von dem man nicht weiß, was es ist, läßt man es immer erst einmal in der Badewanne schwimmen», belehrte ihn Gaylord.
«Aber doch keine Briefbeschwerer», sagte Paps.
«Es ist doch auch kein Briefbeschwerer», widersprach Gaylord.
Jetzt sind wir wieder am Anfang, dachte Paps. Er fror und war müde. Er setzte sich aufs Bett. «Das ist ein Briefbeschwerer in der Gestalt eines Hirsches. Ein Hirsch ist ein männliches Reh. Was da aus seinem Kopf herauswächst, sind keine Bäume. Das ist sein Geweih.» Er kam sich sehr pädagogisch vor.
Aber Gaylord zeigte kein Interesse mehr. «Soll ich dir was vortrommeln?» fragte er.
Schweigen. «Jetzt noch nicht», sagte Paps. «Die andern schlafen noch», fügte er voller Neid hinzu.
Rose wurde durch einen unmelodischen Trompetenstoß aufgeweckt. Weihnachten, dachte sie voller Unbehagen, und Bobs und sein geheimnisvoller Freund kommen. Den ganzen Tag würde sie damit zuzubringen haben, Beckys Angriffe abzuwehren, das stand einmal fest. Es würde einen Kampf geben. Und es standen ihr nur so wenige Waffen zur Verfügung. Nennenswerte Reize habe ich nicht vorzuzeigen, dachte sie bekümmert, und außerdem wußte sie, daß sie in der Defensive stachelig wie ein Igel war. Ich darf die Ruhe nicht verlieren, nahm sie sich fest vor. Ich darf mich von ihnen einfach nicht rausbringen lassen.
Weihnachten, dachte Opa hochbefriedigt. Gottlob genoß er das Essen immer, und an Weihnachten konnte er es mit gutem Gewissen tun. Und den Wein auch. Wie es manche
Menschen fertigbrachten, diese schönste Gottesgabe zu schmähen, war ihm
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