Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
schleierhaft, aber er war fest davon überzeugt, daß man ihnen im Jenseits wegen ihrer Undankbarkeit schon die Leviten lesen würde.
Essen, Wein und Gemütlichkeit. Opa sah einen herrlichen Tag vor sich, wenn bloß Bea nicht darauf verfiel, auch das Vergnügen noch zu organisieren.
Weihnachten, dachte Tante Marigold. Was für ein herrliches Jahr war es gewesen, als sie alle auf dem See Schlittschuh gelaufen waren. Sechsundneunzig, nicht wahr? Oder Achtundneunzig? Und die anderen Weihnachten, als es wenig zu heizen und noch weniger zu essen gab und man nicht viel mehr tun konnte, als für die Jungens in den Schützengräben zu stricken und darauf zu hoffen, daß das Gaslicht nicht abgedreht wurde, weil die Zeppeline im Anflug waren. Trotzdem waren sie schön gewesen, diese spartanischen Weihnachtsfeste vor so langer Zeit, schön in ihrer merkwürdigen, verträumten Weltuntergangsstimmung. Aber die Welt war nicht untergegangen. Seitdem hatte es so viele, so viele Weihnachten gegeben. Milde, nasse, frostige, verschneite. Und alle waren sie schön gewesen. Auf ihre stille, in sich ruhende, genügsame Art hatte Marigold sie alle genossen. Und sie würde auch dieses Weihnachtsfest genießen. Weihnachten, dachte Becky, und drei junge Männer im Haus. Sie rekelte sich genüßlich, regte ihre Krallen und schnurrte.
Gaylord strolchte über den Hof. Er wollte ein bißchen mit Abdullah, dem Puter, reden. Kein Abdullah. Er kroch in den Verschlag. Alles leer. Das war noch nicht dagewesen. Er ging ins Haus zurück, wo fast die ganze Familie versammelt war, um sich ein stilles Gläschen Sherry zu genehmigen. «Ich kann Abdullah nirgends finden», sagte er.
Allgemeines Schweigen. «Wo ist denn Abdullah?» fragte er.
«Im Ofen», erwiderte Opa gefühllos.
Gaylord wurde es ganz schwach. Es ist doch wirklich be-stürzend, wenn man mit jemand ein Schwätzchen halten will und hören muß, daß er im Ofen ist. «Oh», sagte er beklommen.
Rose sagte: «Vater, das war sehr grausam.»
«Was? Wirklich?» Opa war ganz erschrocken. «Guter Gott.»
«Bedenke doch, daß ein Kindergemüt noch leicht verletzlich ist. Noch nicht gefestigt, und allem ausgesetzt, das...»
«Tut mir wahnsinnig leid», murmelte Opa. «Wirklich wahnsinnig leid. Ich hätte das nicht... um alles in der Welt...»
«Ob er jetzt wohl im Himmel ist?» fragte Gaylord.
«Wer?»
«Abdullah.»
«Puter kommen nicht in den Himmel», erklärte Paps.
«Kommen sie in die Hölle?»
«Sie kommen nirgends hin.»
«Nur die Gurgel hinunter», gluckste Tante Bea, was Gaylord unglaublich geschmacklos fand. «Was, Zuckerbübchen?»
Das war zuviel: «Essigtantchen», sagte Gaylord, aber nur mit den Lippen. Den Ton unterdrückte er wohlweislich.
Aber selbst so warf ihm Mummi einen ihrer berühmten Blicke zu. Dieser Frau entging einfach nichts. Sie hatte gerade das Sherryglas an die Lippen gesetzt und ließ es wieder sinken. «Gaylord, was hast du eben gesagt?»
«Gar nichts, Mummi», sagte er im Ton gedämpfter Entrüstung. Nur weil man die Lippen bewegte, hatte man doch noch nichts gesagt, oder? Manche Leute zogen aber auch gar zu schnelle Schlüsse.
Mummi beobachtete ihn weiter. Endlich hob sie das Glas an die Lippen. Sie hatte die Angewohnheit, beim Trinken die Augen zu schließen. Das tat sie jetzt auch gerade. «Essigtantchen», wiederholte Gaylord schweigend, nur mit den Lippen. Mummi öffnete die Augen wieder und sah ihn immer noch an. Er starrte zurück, mit unbewegtem Gesicht wie ein Chinese. Du hast gewonnen, dachte Mummi im stillen. Aber überspann nur den Bogen nicht, Sonnyboy.
Du hast gewonnen, dachte Rose verbittert. Becky hatte genau den richtigen Zeitpunkt erwischt. In dem Augenblick, als Bobs und sein Freund erschienen, stand sie genau unter dem Mistelzweig. «Hallo, Becky», begrüßte Bobs sie. «Fröhliche Weihnachten.»
«Fröhliche Weihnachten, Bobs.»
Er sah Becky an. Er sah den Mistelzweig an. Und ging zum Angriff über. Becky, die plötzlich bemerkte, wo sie stand, machte Anstalten zu fliehen. Zu spät. Er küßte ihre warmen, roten, lachenden Lippen. «Hallo, Rose», sagte er dann über Beckys Schulter hinweg.
«Hallo», sagte Rose.
Mit sichtlichem Widerstreben löste er sich von Becky. Rose hätte jetzt am liebsten Becky unter dem Mistelzweig abgelöst, aber wenn sie nicht Becky beiseite schubsen wollte, konnte daraus nichts werden. Bobs ging jetzt auch zu ernsthafteren Dingen über. «Darf ich euch Stan vorstellen, Stan Grebbie.
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