Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
mütterlicher Instinkt, seit Jahren brachliegend, hatte plötzlich ein Ventil gefunden und drängte ans Tageslicht.
6
Gaylord war betrübt. Er würde weiß Gott froh sein, wenn dieses Weihnachten erst hinter ihm läge. Erstens das Mißverständnis mit dem Briefbeschwerer. Zweitens Tante Bea, die ihn den ganzen Morgen lang wie eine übergewichtige Waldnymphe verfolgt hatte. Und dann hatten sie seinen Freund Abdullah verspeist. Er hatte nicht einmal gut geschmeckt. Gaylords Leibgerichte waren Fleischpastete und Reispudding. Und je eher man zu ihnen zurückkehrte und aufhörte, seine Freunde zu verspeisen, desto besser, dachte er. Und das viele Gerede. Opa, das Tranchiermesser gezückt, mit Paps flüsternd. Aber Gaylord hatte es doch verstanden: «Wird Gaylord davon überhaupt was mögen? Er schien so außer sich zu sein...» Und darauf Paps: «Großer Gott, natürlich. Der würde nicht mit der Wimper zucken, wenn man Mummi garniert auf den Tisch brächte.» Das war einfach nicht wahr. Er würde Mummi nicht essen wollen. Sicher war sie zähe. Und bitter. Paps stellte manchmal schon sehr ungerechte Behauptungen auf.
Immerhin hatte diese Bemerkung neue, recht erfreuliche Überlegungen ausgelöst. «Warum essen wir eigentlich keine Menschen?» fragte er.
Opa, der an Abdullah herumsäbelte, sagte: «Wenn wir nicht so viele Schafe und Kühe hätten, würden wir das wahrscheinlich tun. Das ist immer eine Sache von Angebot und Nachfrage.»
«Ich weiß nicht, ob du recht hast, Vater», sagte Paps.
«Leute, die Menschenfleisch versucht haben, sagen, es sei nicht sehr schmackhaft. Reichlich fade und zäh.» Er sah mit Besorgnis das gefürchtete Aufleuchten in Onkel Bens Augen. «Weißt du, was der Kannibale zu dem Missionar sagte?» fragte Onkel Ben auch schon.
Nein, und ich will es auch nicht wissen, dachte Paps. Nur, um Onkel Ben zum Schweigen zu bringen, fuhr er hastig fort: «Ich glaube, es hängt auch vom Kochen ab. Wahrscheinlich sind die primitiven Stämme niemals über ein simples Menschengulasch, in Kokosnußschalen kalt serviert, hinausgekommen.»
«O Gott», seufzte Mummi.
Voller Wonne spann Gaylord den Faden weiter: «Ich wette, die Finger sind arg knorpelig.»
«Die Finger werden nicht mitgegessen», sagte Paps.
«Vermutlich ist das einer von den Gründen, warum sich der Kannibalismus nicht durchgesetzt hat», sagte Opa. «Zu vieles am Menschen ist einfach nicht genießbar.»
Zur allgemeinen Überraschung sagte Mr. Grebbie: «Die menschliche Leber schmeckt ziemlich widerlich.»
«Haben Sie sie denn schon versucht?» fragte Opa und reichte ihm dabei einen Teller voll Abdullah.
«Um Gottes willen, nein», erhitzte sich Mr. Grebbie. «Ich... ich habe das bloß mal irgendwo gelesen.» Erstaunt über seine Kühnheit, versank er wieder in Schweigen.
«Hat irgend jemand noch Appetit auf den Weihnachtsbraten?» fragte jetzt Mummi.
«Ich nicht», sagte Becky. «Wer hat das Thema eigentlich aufgebracht?»
Alle blickten auf Gaylord, der sagte: «Als Gehacktes würde es vielleicht noch gehen. Dann könnte man auch alle knorpeligen Teile wie Finger, Zehen, Ohren...»
«Sei jetzt still», unterbrach ihn Mummi.
Ja, das war eine ganz interessante Unterhaltung gewesen, die ihm allerhand Stoff zum Nachdenken gegeben hatte. Aber jetzt war das Essen vorbei, und alle saßen entweder mit jenem schrecklich glasigen Blick herum, den die Erwachsenen immer nach dem Essen bekamen, oder sie schliefen. Gaylord spürte instinktiv, daß weder seine Trommel noch seine Trompete jetzt besonders willkommen war. Daher beschloß er, sich zu verkrümeln.
Draußen auf dem Weg traf er Willie. «Komm und laß uns zu deinem Schatz gehen», schlug er vor.
Sie trabten los. «Hast du viel geschenkt bekommen?» fragte Willie.
Gaylord hatte herausgefunden, daß Weihnachtsgeschenke, welcher göttlichen oder weltlichen Quelle sie auch immer entstammen mochten, in direktem Verhältnis zum Geldbeutel der Eltern standen. So war es nicht wahrscheinlich, daß Willie viele erhalten hatte. Mit angeborenem Takt antwortete er: «Nicht viel. Nur einen Hirsch.»
«Was ist denn das?»
«Eine Art Pferd.»
«Was tut es denn?»
«Nichts», sagte Gaylord.
Darüber mußte Willie erst nachdenken. «Klingt nicht gerade doll», sagte er.
Gaylord sagte: «Hast du auch was bekommen, Willie?»
Willie schlurfte weiter und starrte geradeaus. Er schien die Frage nicht gehört zu haben. Gaylord wünschte insgeheim, er hätte sie nicht gestellt.
Sie kamen
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