Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
nicht, sondern Willies Bruder.
«Warum hast du dann Angst? Schikaniert man dich vielleicht in der Schule?»
«Nein. Ich hab nur Masern.»
«Also mein Gott noch mal!» Mutter und Sohn starrten sich an. Sein Gesicht war entwaffnend unschuldig wie immer. Verbarg sich hinter der Klarheit dieses Blickes etwa Angst? Wenn sie das nur wüßte.
«Gaylord», sagte sie liebevoll, «du mußt jetzt auf stehen und in die Schule gehen. Ich bin überzeugt, dir fehlt überhaupt nichts, und wenn du wirklich vor irgend etwas Angst hast, nützt dir das Davonlaufen auch nichts.» Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. «Das ist übrigens eine der ersten und schwersten Lektionen, die wir im Leben lernen müssen.»
Beim Hinausgehen sah sie sich noch einmal um. Gaylord kroch gerade aus dem Bett. Tapferes Kerlchen, dachte sie, und ging in ihr Zimmer zurück. «Gaylord hat die Masern», verkündete sie. «Die ohne Flecken.»
«Was soll das heißen?» fragte Paps.
«Das heißt, daß er noch immer vor irgend etwas Angst hat und mir einfach nicht sagen will, wovor.»
Paps nickte. «Dann muß er wohl sehen, wie er selbst mit der Sache fertig wird!»
«Ja. Oder sind wir da nicht sehr hart?»
«Nicht wir», sagte er. «Das Leben. So ist es nun mal.»
Er verschwand im Badezimmer. Als er zurückkam, sagte er: «Ich habe nachgedacht. Ich könnte ihn bis ins Dorf begleiten. Ich sage einfach, daß ich mir Tabak besorgen will. Vielleicht erfahre ich dann etwas.»
Mummi sah erleichtert aus. «Ja, tu das, Jocelyn. Mir gefällt die Geschichte gar nicht. Gaylord muß wirklich vor irgend etwas Angst haben.»
Gaylord würgte an seinem Frühstück. Jeder Bissen blieb fast im Halse stecken. Wenn doch Mummi bloß aufhören würde, ihn immerfort zu beobachten. Paps zog seinen Tabaksbeutel heraus, um sich eine Pfeife zu stopfen, und rief: «Verflixt, May, ich hab keinen Tabak mehr. Da muß ich schnell mal ins Dorf.» Zu Gaylord gewandt fragte er: «Gestattest du gütigst, daß ich dich begleite?» Wenn Mummi diese Frage gestellt hätte, wäre Gaylord das höllisch verdächtig vorgekommen. Aber Paps traute er keinerlei Hintergedanken zu. Für Gaylord war Paps ein aufgeschlagenes Buch. «Okay», sagte er.
«Sag nicht okay», sagte Paps. «Können wir gehen?»
«Muß noch mal auf den Abort», sagte Gaylord.
Paps war schockiert. «Wo mußt du hin?»
«Die Lehrerin sagt Abort», sagte Gaylord. Und verschwand.
Paps wandte sich an Mummi. «Da haben wir’s, so kommt’s immer. Du brauchst dein Kind nur auf die Dorfschule zu schicken, und schon schnappt es die ordinärsten Ausdrücke auf.» Er war wütend. Opa kam herein. «Was hast du denn?» fragte er seinen Sohn.
Düster erwiderte Paps: «Wir haben gerade zur Kenntnis genommen, daß man Gaylord beigebracht hat - stell dir vor, beigebracht -, Abort zu sagen statt Toilette.»
«Großer Gott», sagte Opa.
«Ich hab gar nichts gegen die gute, ehrliche Muttersprache», sagte Paps. «Aber Abort! Ich werde an die Schulbehörde schreiben.»
Gaylord kam zurück. Dann ging er mit Paps in die Halle. «Wo will er denn hin?» fragte Opa.
«Tabak kaufen», sagte Mummi.
Opa eilte zur Tiir. «He, Jocelyn! Ich hab noch eine volle Dose, die kann ich dir geben.»
«Schon gut, danke», sagte Paps. «Ich geh ganz gern.»
«Ganz gern? Am frühen Morgen? Du?» Opa ließ keine Gelegenheit verstreichen, ohne deutlich zum Ausdruck zu bringen, wie verachtenswert er es fand, daß Jocelyn vor halb elf Uhr vormittags nicht ansprechbar war.
«Ja. Ich», sagte Paps verärgert.
Großtante Marigold erschien mit einer kalten Wärmflasche und einer leeren Tasse nebst Untertasse. «Warum hat Jocelyn denn seinen Mantel an?»
«Kein Grund zur Aufregung. Er fängt nicht etwa an, einer einträglichen Beschäftigung nachzugehen», beruhigte sie Opa. An kalten Wintermorgen konnte er ausgesprochen perfide sein.
«Also Vater, ich bitte dich», schrie Jocelyn. Fast jede Bemerkung des alten Mannes ging ihm auf die Nerven. Aber diese unverhüllte Ansicht der ganzen Familie, ein Schriftsteller verdiene sein Geld, ohne arbeiten zu müssen, machte ihn rasend.
Becky schoß durch die Halle, um sich noch schnell wenigstens eine Tasse Tee einzuverleiben, ehe sie von ihrem Galan abgeholt wurde. «Verläßt du uns, Jocelyn?» fragte sie munter.
«Ich komm zu spät», jammerte Gaylord.
«Ich komm ja schon», sagte Paps ermattet. Jetzt wollte Tante Marigold ihn unbedingt noch zärtlich umarmen, zumindest so zärtlich, wie sie das
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