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Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

Titel: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Malpass
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keineswegs so klar war. Sonnenklar war nur etwas anderes: Wenn Gaylord den Briefbeschwerer nicht ablieferte, würde Bert ihn fertigmachen. Er nahm das Ding aus dem Pult, ließ es in seine Hosentasche gleiten und schloß den Pultdeckel wieder. «Gaylord, was machst du denn da?» fragte eine besorgt klingende Stimme.
    Miss Marston war ausgesprochen nett, obwohl sie ¡Klosett) sagte. Sie liebte und achtete die ihr anvertrauten Kinder. Und sie liebte und achtete Gaylord von allen vielleicht am meisten. Sie hielt ihn für aufrecht und gut erzogen, ja, für eine kleine Persönlichkeit. Ein Kind mit Charakter. Und jetzt machte er ein schuldbewußtes Gesicht wie ein ganz gewöhnlicher hinterhältiger Dieb. Und als das erwies er sich hier auch, befürchtete sie. «Was machst du denn da?» wiederholte sie.
    Gaylord glaubte, sein Herz müsse zerspringen. «Ich... ich... ich hol mir was», stotterte er.
    «Was denn?» Miss Marstons Stimme klang jetzt etwas schärfer.
    Sein Unterbewußtsein registrierte, daß der alte Gaylord soeben gestorben war. Der lustige, anständige Gaylord war tot. Statt dessen gab es jetzt eine armselige Kreatur, die die ganze Welt und, was noch viel schlimmer war, die er selbst einen Dieb nennen mußte. Die Würfel waren gefallen, aber im Unterbewußtsein beschloß er, daß er nicht auch noch zum Lügner werden wollte. Dás wenigstens konnte aus diesem Schiffbruch gerettet werden.
    «Was denn?» hörte er Miss Marston noch einmal sagen; dann zog er den Briefbeschwerer aus der Hosentasche und antwortete: «Das hier.»
    Sie überlegte, ob es dafür nicht eine ganz plausible Erldä-rung gäbe. Dieser Junge konnte einfach kein Dieb sein. «Gehört es denn dir?» fragte sie. «Hat David es dir weggenommen?» So konnte es ja nur sein. Sie mußte sich vor voreiligen Schlußfolgerungen hüten.
    Aber Gaylord sagte: «Nein, Miss. Es gehört David. Er hat es Sammy Breen abgekauft.»
    Sie verwünschte insgeheim seine Ehrlichkeit. «Warum hast du es dann genommen?»
    «Es... es ist so hübsch», sagte er.
    «Ja», sagte sie. «Hübsch ist es schon. Aber deswegen darfst du es doch noch nicht nehmen.»
    Er schwieg. «Du weißt doch, daß ich das melden muß. Ich muß es der Schulleitung melden.»
    «Ja, Miss.»
    Sie standen schweigend da. «Gut», sagte sie schließlich, «leg es bitte zurück.»
    Er folgte ihrer Aufforderung und schloß das Pult. Ein Dieb, den man erwischt hatte - und heute abend würde Bert ihn zusammenschlagen.
    Miss Marston sagte: «Du gehst jetzt besser zum Essen. Wir kommen später darauf zurück.»
    «Jawohl, Miss», erwiderte er und ging. Er hatte keinen Hunger.
    Sie kam hinter ihm her. «Gaylord, warum hast du das bloß genommen?»
    Schweigend stand er da. Sie wartete. Das Verlangen, dieses stumme Häufchen Elend in die Arme zu schließen, überwältigte sie fast. Nur mit Mühe hielt sie sich zurück. Gemeinsam verließen sie das Klassenzimmer. Auch sie hatte keinen Appetit mehr.
     
    Das Mittagessen war vorüber, der Nachmittagsunterricht auch, und Messerstecher Bert lauerte auf dem Weg, um sich auf Gaylord, den Dieb, zu stürzen. Aber die ganze trübe Affäre mit dem Briefbeschwerer mußte vorher noch einmal aufgerollt werden. Miss Marstons Schuld war das nicht. Niemandes Schuld. Aber ein Körnchen Unehrlichkeit, ist es erst einmal entdeckt, kann auf lange Zeit hinaus das Leben vieler Menschen in Unordnung bringen.
    Die Klasse leerte sich, und die Lehrerin hatte nichts gesagt. Während die Kinder hinausdrängten, saß sie lesend auf ihrem Platz. Gaylord kam gerade an ihrem Pult vorbei -im nächsten Augenblick wäre er draußen -, da kam es: «Gaylord», sagte sie ruhig, noch immer lesend.
    Er blieb stehen. «Ja, Miss?»
    «Warte, bitte», sagte sie und las noch immer.
    Er wartete. Erst nachdem alle Kinder draußen waren, sah sie auf. Ihr junges Gesicht zeigte Mitleid. «Du weißt doch, daß ich zur Schulleitung gehen muß wegen dieser dummen Geschichte?» fragte sie.
    Gaylord nickte stumm.
    «Ich gehe aber nicht. Wenigstens heute noch nicht.»
    Gaylord war erleichtert. Der Gedanke, daß dieser weibliche Jehova sich mit ihm befassen würde, erfüllte ihn nicht gerade mit Begeisterung.
    «Nicht etwa», sprach Miss Marston weiter, «um dir Unannehmlichkeiten zu ersparen, sondern weil ich das Gefühl habe, es steckt noch etwas anderes dahinter, und das möchte ich erst einmal herausfinden.»
    «Ja, Miss», sagte Gaylord.
    Keine sehr aufschlußreiche Bemerkung. «Ich habe also beschlossen, erst

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