Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
begleiten.«
»Danke, Mutter«, sage ich und verneige meinen Kopf. Als ich wieder aufsehe, ist sie bereits verschwunden und Jesien, Aviv und Sol starren mich abwartend an.
»Was kann man denn hier so am Abend machen?«, frage ich, um etwas zu sagen. Ich weiß noch nicht, was ich tun möchte, aber nachdenken kann ich auch noch später im Bett.
Ich sitze zwischen Sol und Aviv, während uns die Wand gegenüber einen sehr alten Film von einer Geschichte zeigt, wo Maschinen die Welt übernommen haben. So hat man sich damals die Zukunft vorgestellt, … verrückt! Jesien sitzt auf einem Sessel neben uns und hält ein Glas Wein in der Hand. Er lacht die ganze Zeit und steckt mich regelmäßig damit an.
»Könnte ich auch etwas Wein haben?«, frage ich schließlich und es dauert keine Sekunde, bis ich ein Glas Rotwein in der Hand halte. Jesien zwinkert mir zu, bevor er sich wieder dem Film widmet. Während ich trinke fällt mir auf, dass Aviv etwas Abstand zu mir hält, während Sols Nähe auf meiner Haut brennt.
»Verbringt Nevis nie den Abend mit euch?«, frage ich, um meine Gedanken an einen kühleren Ort als Sols starke Oberarme zu lenken.
»Wir sehen uns immer nur diese zwei Tage alle hundert Jahre«, erzählt Jesien und nimmt einen Schluck Wein. »Und ja, Nevis hält sich von Gruppenaktivitäten fern.«
»Vielleicht sollten wir ihn bitten herzukommen?«, fragt Aviv, doch die anderen kommen nicht dazu, sich zu äußern, denn ich platze dazwischen.
»Ihr seht euch nur alle hundert Jahre?« Ungläubig sehe ich die drei Götter an. »Aber ist das nicht furchtbar für euch? Ich meine, ihr seid doch Brüder.«
»Brüder, die nichts anderes kennen, als alleine zu leben, Maya«, erklärt Jesien und seine Stimme ist dabei so sanft und süß wie der Wein, den er mir gegeben hat. Ich mustere das Glas in meiner Hand. Wie furchtbar. Kein Wunder, dass sie sich so auf mich gefreut haben. Der Druck, mich für sich zu gewinnen, muss unheimlich groß sein, denn ansonsten drohen ihnen wieder hundert Jahre Einsamkeit. Wie hoffnungslos muss sich Nevis fühlen?
»Entschuldigt mich bitte, ich glaube, ich brauche etwas Zeit für mich«, sage ich und stelle das Glas auf einer kleinen, weißen Anrichte ab. Über ihr ragt eine gusseiserne Ranke aus der Wand, auf der ein Spatz sitzt und mich mit seinen Knopfaugen mustert, bevor er davonfliegt. Merkwürdiges Haus.
Die Männer stehen auf und verneigen sich. Sol bietet mir an, mich zu meinem Zimmer zu geleiten, doch ich weise ihn dankend zurück. Ich bin kaum wieder in der großen Eingangshalle, da verschließt sich das Zimmer und damit auch die Jahreszeiten hinter mir. Einen Moment lang fühle ich mich einsam und muss wieder an Nevis denken. Während ich das tue, schwingt plötzlich die Eingangstür auf und ich starre sie verwundert an. Ich darf nicht alleine hinausgehen und bei Nacht erst recht nicht, wieso öffnet sie sich also? Will Gaia mich etwa testen? Langsam gehe ich zur Tür und will sie gerade schließen, als der Blick nach draußen mich in seinen Bann zieht. Es ist mittlerweile Nacht geworden. Ein klarer Sternhimmel hängt über einem circa zwei Meter hohen Teppich aus Nebel. Ich kann keinen Boden ausmachen, nur diesen dichten Rauch, der alles bedeckt. Neugierig gehe ich ein paar Schritte vor und kaum bin ich hinausgetreten, fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Ängstlich drehe ich mich um, doch das Haus ist verschwunden. Einfach weg, ich stehe mitten im Nichts.
»Nein«, rufe ich und Panik krallt sich in meine Knochen. »Nein, nein, … Mutter?« Nichts, nur Stille. »Gaia?« Ich wollte nicht rausgehen! Wieso ist das Haus jetzt weg? Um mich herum hängt der Nebel schwer in der Luft und lässt mich nicht erkennen, wo ich bin. Die Dunkelheit der Nacht ist auch nicht gerade hilfreich. Alles, was ich sagen kann ist, dass meine Füße auf warmer Erde stehen.
»HILFE!«, rufe ich, bis meine Lungen zu schmerzen beginnen. Der Nebel um mich herum scheint immer dicker zu werden und irgendwie faulig zu riechen. Nervös greife ich in meine Haare. Es muss einen Ausweg geben. Irgendwie, irgendwo, doch leider habe ich mich schon so oft um mich selbst gedreht, dass ich keine Ahnung mehr habe, von wo ich gekommen bin, also laufe ich mit pochendem Herzen einfach los. Die Arme vor mir ausgestreckt, damit ich mit nichts zusammenstoße. Immer wieder bleibe ich mit meiner Kleidung irgendwo hängen. Meist scheinen es Sträucher zu sein oder eine Art Maschendrahtzaun. Ich bemerke, dass ich
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