Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
sehr früh sein.
»Ich komme sofort«, sage ich zu Aviv und flehe ihn mit meinen Augen an, mir noch einen Moment Privatsphäre zu geben. Er versteht und verlässt das Zimmer mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Ich reibe mir über das Gesicht und spüre immer noch diese Schwere aus dem Traum in mir. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder Nevis hinter dieser dicken Trennwand, unerreichbar für mich. Ich erhebe mich schwerfällig aus dem Bett und zu der Tasche, die ich vor dem Schlafengehen noch gepackt habe. Auf ihr liegt das, was ich heute anziehen möchte. Eine Jeans, ein weißes Top und eine rote Strickjacke. Dazu ein paar bequeme Halbschuhe, da ich nicht weiß, wie weit ich mit Aviv zu seinem Haus laufen muss. Ich wasche mich und ziehe die Sachen an. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich ganz passabel aussehe. Müde, aber hübsch. Mein Zopf könnte es vertragen, neu geflochten zu werden, aber irgendwie gefällt es mir, wenn sich meine Haare ein wenig kräuseln, also lasse ich alles, wie es ist. Avivs Blume hat sich fast über die Hälfte meines Kopfes ausgebreitet und leuchtet in einem kräftigen Gelb.
In der Halle erwarten mich zu meinem Erstaunen nicht nur Gaia und Aviv, sondern auch die anderen drei Jahreszeiten. Sie alle sind, wie am ersten Tag, in die typischen Farben ihrer Jahreszeit gekleidet. Aviv tritt auf mich zu und ich fühle einen Knoten in meinem Bauch. Nicht seinetwegen, sondern weil ich mich nicht traue Jesien oder Nevis ins Gesicht zu sehen. Ich werde die beiden vermissen und für einen Moment fühle ich mich etwas haltlos. Doch als ich in Avivs Augen blicke und die Wärme seiner Hand spüre, fange ich mich wieder und sehe zu Gaia.
»Viel Spaß, Maya«, sagt die Göttin.
Möge die Göttin mit dir sein, geht es mir durch den Kopf, doch diese Verabschiedung ist im Angesicht der Göttin selbst nicht angebracht. »Auf Wiedersehen«, bringe ich stattdessen heraus und wage doch einen zaghaften Blick zu Jesien und Nevis. Der Herbst lächelt, aber nicht aus vollem Herzen. Zweifel steht in seine braunen Augen geschrieben und seine Stirn ist vor Sorge in Falten gelegt. Nevis‘ Blick ist undurchdringlich. Er wirkt kalt wie die Jahreszeit, die er vertritt. Nichts an ihm lässt erahnen, was er denkt, und das sticht mir direkt ins Herz. Wird er mich nicht vermissen? Ist er sogar froh, dass ich nun weg bin?
»Komm, Maya«, bittet mich Aviv und drückt sanft meine Hand.
»Wir sehen uns«, sage ich in die Runde und lächele kurz Sol zu, der mich selbstsicher ansieht und lässig die Hände vor seinem Oberkörper verschränkt.
»Moment!« Es ist Jesien, der uns anhält. Er kommt auf uns zu und zieht mich fest in seine Arme. Ich bin für einen Moment wie erstarrt. Der Herbst vergräbt seine Nase in meinen Haaren und legt dann seinen Mund an mein Ohr. »Mach es gut, Maya«, flüstert er und ich fühle Avivs Hand, die mich von ihm wegzieht.
»Bis bald, Brüder«, sagt der Frühling und führt mich die Stufen hinauf. Ich lächele Jesien zu, drehe mich um und beobachte, wie sich vor mir eine weite Wiese ausbreitet. Die Stufen unter meinen Füßen verschwinden, der Marmor wird zu Gras. Ein letztes Mal drehe ich mich um und sehe in Nevis‘ Augen, die mir angsterfüllt hinterherstarren. Ich will ihm noch etwas zurufen, da verschwindet er und eine Biene fliegt um mich herum. Kirschbäume in ihrer schönsten rosaroten Blüte wachsen aus der Erde, wo eben noch die anderen gestanden haben.
Aviv lächelt mich siegessicher an, als er den Ausdruck in meinem Gesicht sieht. »Schön, nicht wahr?«
»Unglaublich«, sage ich, löse mich von seiner Hand und gehe durch das taufrische Gras. Die Luft ist warm und ein leichter Wind weht mir um die Nase. Es duftet herrlich nach Blumen.
»Das könntest du dein Leben lang haben.«
Ich betrachte meine Umgebung und entdecke ein paar Kaninchen, die sich abseits von uns auf der Wiese tummeln. »Zeig mir dein Erdhügelhaus«, sage ich und umschiffe damit seine Aussage. »Und ich brenne darauf, Nutty kennenzulernen.«
Aviv strahlt mich glücklich an. »Okay.« Er nickt und seine braunen, strubbeligen Haare wippen dabei ein wenig mit. »Du hast sicher Hunger, oder?«
Eigentlich nicht, trotzdem nicke ich.
»Dann komm, ich bin schon gespannt, wie du das Haus findest.«
Ich folge ihm über die Wiese, wo sich die Kaninchen vergnügen. Als wir näherkommen, flüchten sie jedoch in ihre Löcher. Aviv lacht leise und deutet über den kleinen Hügel, der sich jetzt
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