Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
Bruders einfach so überspielen können. Wenigstens Jesien sieht immer wieder besorgt zu seiner rechten Seite. Aviv ist der Älteste und gerade der sollte hier doch irgendwie eingreifen, oder? Aber die Brüder kennen sich kaum, was an der Person liegt, die hier auf jeden Fall etwas tun sollte. Gaia. Sie bemerkt meinen Blick, sagt aber nichts und sieht wieder zu Nevis. Das Essen erscheint vor uns und Aviv, Sol und Jesien widmen sich ihrem Besteck.
»Risotto von grünem Spargel mit Krabben«, sagt Aviv. »Meine Leibspeise.«
»Wäh, Meeresgetier«, brummt Jesien, stochert kurz im Essen herum und nimmt stattdessen einen Schluck Wein.
»Man muss alles einmal probieren«, sage ich und stecke mir etwas davon in den Mund. Was soll ich sagen? Es schmeckt köstlich. »Sehr gut«, murmele ich mit vollem Mund und Avivs Augen leuchten fröhlich auf. Ich esse meine Portion komplett auf, verliere dabei aber nicht Nevis aus den Augen, der wie erwartet überhaupt nichts anrührt.
Als Gaia nach dem Essen zum geselligen Abend in ein anderes Zimmer bittet, bin ich erstaunt, dass Nevis ebenfalls mitkommt. Ich hätte gewettet, dass er die Flucht ergreift und ich ihn erst in drei Wochen wiedersehe. In Gaias Wohnzimmer angekommen setze ich mich in einen der vielen weißen Sessel und sehe zu Nevis herüber. Gaia tritt neben mich und streicht gedankenverloren über meinen Kopf. Die Blumenranken, die sie umgeben, scheinen mich zu beobachten.
»Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder«, beginnt die Göttin in einer lieblichen Stimme zu singen und setzt sich auf eine der Lehnen meines Sessels. »Den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter.«
»Der Frühling bringt Blumen«, singt Aviv.
»Der Sommer den Klee«, macht auch Sol mit.
Jesien hebt sein Glas und singt »Der Herbst bringt die Trauben …«
Alle sehen zu Nevis, doch der steht am Fenster und starrt hinaus.
»Der Winter den Schnee«, beendet Gaia das Lied und streichelt mir noch einmal über den Kopf, bevor sie sich erhebt und zu einer Wand geht. Sie legt ihre flache Hand darauf und steht einfach nur stumm da.
»Man muss nicht immer verstehen, was Mutter tut«, sagt Aviv, der meinen Blick aufgefangen hat. Ich lächele und nicke. Jesien versorgt mich mit einem weiteren Glas Wein, aus dem ich einen großen Schluck nehme. Nachdem Nevis sich immer noch nicht gerührt hat, fasse ich mir ein Herz und gehe zu ihm hinüber. Jesiens Wein hat mich mutig gemacht.
»Schön, dass du noch etwas bleibst«, sage ich.
Nevis sieht auf. Seine Augen wirken verletzt. »Hm«, brummt er.
»Ich werde dich vermissen, weißt du?«
»Warum tust du das?«, flüstert er und schüttelt den Kopf. »Maya, ich bitte dich noch einmal darum, mich in Ruhe zu lassen.«
»Was wolltest du heute Nachmittag bei mir im Zimmer?«, übergehe ich seine Bitte.
»Mich bei dir entschuldigen. Dafür, dass ich so unfreundlich zu dir war.« Seine Miene wird verbissen. »Aber du konntest dich ja bereits trösten.«
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Du bist eifersüchtig«, stelle ich erstaunt fest. Nevis‘ eiskalter Blick durchfährt mich.
»Na und?«, zischt er und sieht zu seinen Brüdern. Sol und Aviv scheinen in einen kleinen Streit über meine Zuneigung verfallen zu sein, während Jesien davon unberührt zu uns hinübersieht.
»Die wollen doch gar nicht DICH, Maya. Die wollen irgendeine.«
»Aber du willst mich?«, hake ich nach.
Nevis hebt seine Hände und legt sie auf meine Oberarme. Sie sind ganz warm und überhaupt nicht kalt.
»Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren, Maya. Außerdem bist du in einer wärmeren, freundlicheren Jahreszeit besser aufgehoben, glaube mir.«
»Du überlässt mich also den Trophäenjägern?« Damit habe ich ihn getroffen, das sehe ich in seinen Augen.
»Jesien ist nicht so einer. Nimm ihn«, sagt er, nachdem er sich gefangen hat.
»Komisch, er sagt, ich soll dich nehmen.«
Nevis‘ eisiger Blick gleitet zu seinem älteren Bruder hinüber. Es scheint, als würden sie sich kurz mit den Augen verständigen, dann wendet sich der Winter wieder mir zu. »Maya, ich kann das einfach nicht. Es ist besser, wenn ich alleine bleibe. Außerdem kennst du mich doch gar nicht.« Da sind sie wieder … diese sanften Augen, die sich immer hinter einem eisigen Gletscher verstecken. Die Augen, wegen denen mein Herz schneller schlägt, wenn ich nur seinen Namen höre.
»Das will ich in drei Wochen ändern.«
Nevis seufzt. »Maya, bitte mache es mir nicht
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