Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
verknittern, aber die Unruhe hat mich übermannt und zwingt mich dazu, ruhig zu liegen und zu atmen. Das ist mein letzter Abend in Gaias Schoß, danach bin ich voll und ganz ihren Söhnen überlassen. Mein Leben lang habe ich unter Frauen gelebt und nun werde ich mit einem Mann alleine sein. Dieser Gedanke schürt mein Heimweh nach dem Orden. Dem friedvollen Miteinander der Frauen, den stillen Gebete zur Göttin und ganz besonders natürlich nach meiner Mutter und Iria. Iria – was würde sie wohl an meiner Stelle tun? Abwarten. Die vier Wochen durchziehen und dann sehen, was mein Gefühl mir sagt. Im Grunde habe ich ja auch gar keine andere Wahl, also atme ich tief durch und erhebe mich vorsichtig, um das Abendkleid nicht zu ruinieren. Kaum stehe ich, durchbohren mich die Augen des Winters, die mir die Wand am Kopfteil meines Bettes zeigt. Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus. Wieso sehne ich mich ausgerechnet nach der Gesellschaft dieser Jahreszeit?
»Mach die Bilder bitte weg«, sage ich zur Wand und Nevis‘ Augen verblassen, bis sie schließlich ganz verschwunden sind. Ich streiche mein Kleid glatt und werfe noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. »Auf in den Kampf!«, sage ich zu mir selbst und lächele mein Spiegelbild an. Die Maya, die dort steht, sieht gut aus. Ihr rotes Haar wirkt durch das dunkle Blau noch kräftiger als sonst. Ihre Haut ist rosig und ihre Augen glänzen. Wenn sie lächelt, könnte man meinen, dass der Glanz daher rührt und nicht von dem schneidenden Heimweh in ihrer Brust. Als ich mich ein wenig drehe, fällt mir auf, dass die Blume des Frühlings in meinen Haaren größer geworden ist. Sie kündigt mir an, dass Avivs Zeit bald gekommen ist. Ich atme noch einmal tief durch und verlasse mein Zimmer. Diese merkwürdigen Gänge werden mir jedenfalls nicht fehlen, auch wenn sie mich wieder zielsicher an meinen Bestimmungsort, Gaias Esszimmer, bringen. Die Göttin und ihre Söhne sind bereits versammelt und sehen mich abwartend an. Alle außer – richtig -, Nevis. Dieser hat seinen Kopf in die Hände gestützt und erhebt sich nicht wie seine Brüder, als ich das Zimmer betrete.
»Maya«, freut sich Jesien überschwänglich und klopft mir liebevoll auf die Schulter. »Hungrig?« Er mustert mich von oben bis unten. »Du sieht übrigens toll aus.«
»Danke und ja, ein wenig.«
»Iss dich noch mal richtig satt, bevor du im Frühling von Blümchen leben musst«, scherzt Jesien und für einen Moment kaufe ich es ihm sogar ab, dann sehe ich aber zu Aviv, der mit einem gütigen Lächeln den Kopf schüttelt.
»Du treibst mich noch in den Wahnsinn«, nuschele ich zu Jesien hinüber, welcher über diese Aussage kurz irritiert wirkt, mir dann aber mit seinem Weinglas zuprostet.
»Du auch?«, will er wissen und ich nicke. Oh ja, bitte viel davon.
»Ich hoffe, dir wird es in der kommenden Woche nicht zu kalt«, sagt Sol und grinst erst mich und dann seinen Bruder Aviv schadenfroh an. »Ich heize das Meer für uns schon mal ordentlich vor.«
»Ich bin nicht zimperlich, was Temperaturen angeht«, sage ich und sehe Sol tief in die blauen Augen. Etwas von seinem Stolz weicht und sein Gesicht verliert an Überheblichkeit. »Aber auf das Meer freue ich mich.«
»Dann weiß ich ja, wo wir wohnen werden«, sagt er und lächelt mit einer Spur Zurückhaltung.
»Darauf einen Schluck«, brummt Jesien neben mir und legt beim Trinken den Kopf in den Nacken, um auch den letzten Tropfen Wein aus seinem Glas herauszubekommen.
»Wo willst du denn mit ihr wohnen, Jesien?«, fragt Sol. »Vorausgesetzt, sie will dich nach mir überhaupt noch kennenlernen.« Und da war er wieder, der alte Sol. Sein Ego hatte sich schnell erholt. »Im Blätterhaufen?«
Zu meinem Erstaunen fällt Aviv in sein Lachen mit ein und büßt damit Punkte ein, die er heute Nachmittag gerade erst gesammelt hatte.
»Und mit Nevis zieht sie in ein Iglu«, fügt er hinzu und Sol fällt fast vom Stuhl vor Lachen. Ich sehe zu Gaia, deren Aufmerksamkeit Nevis gilt. Er rührt sich nicht und sagt kein Wort. Jesien sieht ebenfalls zu ihm, bevor er sich ein neues Glas Wein aus dem Nichts hervor holt. Vor mir steht plötzlich ebenfalls eins und ich nehme es, um mit dem Herbst anzustoßen, was Sol dazu bringt, wie ein Kleinkind zu protestieren.
»Hey!«, ruft er trotzig. »Wenn dann stoßen wir alle an, oder? Auf unseren letzten gemeinsamen Abend.«
Ich ignoriere ihn und frage mich, wie Sol und Aviv den Schmerz ihres jüngsten
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