Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
lenkt Aviv ein und rückt etwas näher an mich heran. Alles, was Nutty mir heute am See erzählt hat, kommt mir wieder ins Gedächtnis. »Maya, daran sollten wir jetzt nicht denken, oder?« Er streichelt mir vorsichtig über die Hände, die auf meinen Beinen ruhen und ich erwische mich dabei, sie wegziehen zu wollen. Stattdessen zucke ich nur zusammen und lasse ihn machen. Aviv bemerkt meine Unruhe und lächelt mich merkwürdig an. Den Glanz in seinen Augen kann ich nicht deuten, doch er rückt noch näher und legt seinen Arm um mich. Ich verkrampfe innerlich und sehe ihn fragend an.
»Ich würde dich so gerne küssen, Maya. Nur einmal.«
Küssen? , schießt es mir durch den Kopf und meine Augen werden groß. Ich habe noch nie einen Mann geküsst … auf den Mund.
»Ich … ich kann das noch nicht … küssen.«
Aviv lacht ein schiefes Lachen. »Das hoffe ich doch.« Er zwinkert mir zu. »Ich glaube kaum, dass Mutter ein verdorbenes Mädchen auserwählt hätte.«
»Ich … Ich …«, … weiß nicht was ich sagen soll. Ich möchte Aviv nicht küssen, will ihn aber auch nicht vor den Kopf stoßen. Doch bevor ich mir etwas überlegen kann, liegen seine Lippen auch schon auf meinen. Es fühlt sich eigenartig an, ist alles, was ich denken kann. Sein Mund ist warm, seine Lippen geschlossen und weder trocken noch feucht. Eigentlich ist es ganz angenehm, aber dennoch frage ich mich, wann der Kuss wohl endet?
»Maya«, raunt Aviv schließlich direkt an meinem Mund. Seine Stimme ist heiser und belegt. »Es ist so lange her.« Wieder treffen seine Lippen auf meine und diesmal teilen sie sich. Als ich seine Zunge spüre, stoße ich ihn von mir.
»Entschuldige«, sagt er sofort. Seine Augen wirken immer noch ganz verhangen. »Zu schnell, verstehe.«
In meinem Kopf rasen die Gedanken. Ich habe einen Mann auf den Mund geküsst. Meine Finger beginnen leicht zu zittern, weshalb ich sie ineinander verschränke. Ich zwinge mich Aviv mit einem Lächeln im Gesicht anzusehen. »Schon gut«, sage ich. »Es ist nur alles noch so fremd für mich.«
»Tut mir leid, Maya.« Seine Stimme klingt aufrichtig und seine grünen Augen flehen mich um Verzeihung an.
»Vergessen wir es einfach, ja?«, schlage ich vor und Aviv nickt, auch wenn etwas in seiner Mimik mich stutzen lässt. Enttäuschung?
Die letzte Nacht im Frühling verbringe ich damit, in meinem Zimmer zu liegen und der Musik der Nacht zu lauschen. Draußen höre ich ein paar Frösche quaken und Nutty, der leise Selbstgespräche führt. Aviv hat mich alleine gelassen, damit ich in Ruhe nachdenken kann. Morgen früh wird er mich an Sol übergeben und irgendwie habe ich deswegen einen Knoten im Magen. Nicht wegen Sol, sondern weil ich Aviv verlassen muss. Ich habe ihn in der Woche lieb gewonnen und auch wenn sein Kuss mir nichts bedeutet hat, so doch seine angenehme Gesellschaft und seine sanftes Lächeln. Mein Leben lang habe ich an einem Ort gelebt und nun wechselt mein Heim ziemlich oft. Jedes Mal wieder herausgerissen zu werden, wenn ich mich gerade irgendwo wohlzufühlen beginne, nimmt mich ein wenig mit. Die Sehnsucht nach Iria und meiner Mutter wird wieder groß und ich versuche mich mit dem Gedanken an Sols Sommerwelt zu trösten.
»Mach es gut, Maya«, sagt Aviv und seine grünen Augen sind voller unausgesprochener Worte. Flehen, Wut, Trauer, all das scheint in ihnen zu brodeln. Seine Hand will die meine nicht loslassen, doch Gaia erwartet mich bereits. Wir machen die letzten Schritte auf eine Art pulsierende Wand zu. Sie ist durchsichtig, schillert aber doch je nach Lichteinfall in allen Farben des Regenbogens. Genau wie die Augen der Göttin.
»Hallo, mein Kind«, begrüßt sie mich. »Du befindest dich hier an der Grenze zu Sols Reich.«
Moment mal, denke ich, grenzen die Welten aneinander? Hätte ich auf der anderen Seite des Frühlings in den Winter sehen können?
»Hinter dieser Barriere erwartet dich bereits mein Zweitgeborener.«
Ich sehe an Gaia vorbei und entdecke den lächelnden Sol.
»Verabschiede dich jetzt bitte von Aviv«, sagt die Mutter aller Dinge. »Dann öffne ich dir einen Weg hinüber.«
Ich drehe mich zu Aviv und nehme seine Hände. »Danke für die schöne Zeit, Aviv.« Vorsichtig drücke ich meine Finger auf seine Haut.
»Maya, werde ich dich wiedersehen?«, bricht es aus ihm heraus.
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, versuche ich ihn zu vertrösten. »Du weißt doch, dass ich mir jeden von euch ansehen werde.«
»Ich hätte
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