Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)

Titel: Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Wolf
Vom Netzwerk:
es ihr genauso ergangen.«
    »Wie war sie so?«
    »Ein wenig wie du, Maya. Nur … wie soll ich sagen … lebhafter, temperamentvoller, aber ebenso nachdenklich und sanft.« Jesien sieht mich entschuldigend an und ich lächele ihm ermutigend zu. »Sie hatte braune, lange Haare und ein unheimlich gewinnendes Lachen.« Er wird ganz still und atmet tief durch. »Der Tag, an dem sie starb, war der schlimmste meiner ganzen Existenz.« In den Chroniken der Hüterinnen steht, dass einst zwei Herbste lang kein gesunder Apfel gewachsen ist und Stürme viel Schaden in der Stadt angerichtet haben. War es Jesiens Trauer gewesen?
    »Es dauerte fast zwei Jahre, bis ich wieder das Gefühl hatte, atmen zu können. Und viele, viele weitere Jahre bis ich wieder lachen konnte.« Sein Gesicht wird nachdenklich. »Eigentlich war es an der darauffolgenden Wahl. Nach Melinda war eine Frau mit zu Aviv gegangen und als wir uns ein Jahrhundert später wieder versammelten, trat Nevis aus dem Schnee in die große Eingangshalle. Er schien übel gelaunt zu sein – wie immer eigentlich.« Wir lachen gemeinsam. »Es war jedenfalls kurz nachdem die neue Auserwählte uns wieder verlassen hat, um sich das Zimmer anzusehen. Sol machte ein paar unflätige Gesten mit seiner Zunge. Nevis war davon so genervt, dass er sie an seiner Hand festfrieren ließ. Sols Gesicht war einfach nur köstlich. Er versuchte mit der ausgestreckten Zunge zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger Nevis zu verfluchen, der mit seinem typischen genervten Blick nur die Augen rollte und dann zu mir herübersah. Da hielt mich nichts mehr und ich brach zum ersten Mal seit hundert Jahren wieder in Gelächter aus.«
    Ich versuche mir verzweifelt vorzustellen, was Sol mit seiner Zunge gemacht hatte, scheitere aber kläglich.
    »Auch wenn Melindas Verlust furchtbar für mich war«, setzt Jesien wieder an, »so war die Zeit mit ihr jeden einzelnen Moment der Trauer wert.« Er sieht mich mit seinen braunen Augen an. Sie wirken merkwürdig ernst. »Ich wünsche mir das Gleiche für Nevis.«
    Ich weiche seinem Blick aus. Wie oft soll ich ihm noch erklären, dass die Wahl noch nicht entschieden ist?
    »Er will mich gar nicht. Weil er genau vor dem Angst hat, was du gerade beschrieben hast.«
    Jesien sieht wieder weg und seufzt. »Ich weiß. Leider blieb mir nicht genug Zeit, um ihm den Kopf zu waschen. Ständig musste er in seine Welt. Den Planeten in Eis gepackt zu halten ist Schwerstarbeit.« Plötzlich kehrt der Humor in seine Mimik zurück. »Ein Grund mehr dafür, jemanden zu Haus zu haben, mit dem man richtig ausspannen kann.« Er zwinkert mir zu und ich habe das Gefühl, einen unterschwelligen Witz verpasst zu haben. Unsicher lächele ich ihn an.
    »Ach, Maya«, gluckst er daraufhin. »Deine Unwissenheit macht dich unglaublich attraktiv, weißt du das?«
    »Nein, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, gebe ich ehrlich zu und Jesien legt lachend einen Arm um mich. Er zieht mich näher an sich heran. Sanft drückt er meinen Kopf an seine Schulter und bettet dann sein Kinn auf mein Haar.
    »Waren die anderen nett zu dir?«, will er, plötzlich wieder ernst, wissen.
    »Ja, wieso?«, frage ich verwundert und inhaliere seinen warmen, erdigen Geruch. Der Herbst riecht nach frisch gefallenen Blättern.
    »Sol kann manchmal sehr aufdringlich sein und Aviv … stille Wasser sind eben tief.«
    »Es gab … Annäherungsversuche«, gebe ich zu. »Aber nichts Schlimmes.«
    »Gut«, sagt Jesien. »Anders hätte ich es auch nicht erwartet.«
    »Du?«, murmele ich. »Was würdest du machen, wenn ich mich für dich und das hier entscheide?« Ich kuschele mich näher an ihn heran.
    »Ich gestehe, dass ich das mit einem weinenden und einem lachenden Auge sehen würde. Einerseits wünsche ich Nevis Erlösung aus seiner Einsamkeit. Andererseits mag ich dich und deine Gesellschaft sehr gerne.« Er reibt mir liebevoll über den Oberarm, auf dem seine Hand aufliegt. »Wieso fragst du, Maya?«
    »Nur so.«
    »Du darfst dich von Nevis‘ Abweisungen nicht beeindrucken lassen, hörst du?« Jesien lässt mich los und sieht mir in die Augen. »Bitte versprich mir, dass du versuchst hinter seinen Schutzwall zu sehen.«
    »Dafür bräuchte ich eine Röntgenbrille.«
    Jesiens Mundwinkel zucken. »Versprich mir es zu versuchen, ja?«
    Ich nicke. Ihm kann ich nichts abschlagen.
    »Wo gehen wir hin?«, frage ich Jesien am nächsten Tag.
    »Lass dich überraschen.« Der Herbst sieht mich an und grinst. Ein wenig

Weitere Kostenlose Bücher