Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
wissen, wenn ich an seiner Grenze bin.«
Ich nicke. »Auch wenn noch nichts entschieden ist.«
Jesien sieht über mich hinweg und grinst jungenhaft. Wie elektrisiert wird mir klar, dass Nevis da sein muss. Direkt hinter mir und dieser merkwürdigen Wand. Langsam drehe ich mich um und mache mich darauf gefasst, wütend angefunkelt zu werden. Doch alles, was ich in Nevis‘ blassem Gesicht sehen kann, ist Erstaunen. Mit einem Räuspern macht Gaia auf sich aufmerksam. Sie öffnet einen Weg durch die Trennwand und sieht von mir zu Nevis. Panisch drehe ich mich wieder zu Jesien um und falle ihm noch einmal um den Hals.
»Mach es gut, mein Mädchen«, sagt er und streichelt über meine Haare, wobei etwas Schnee von ihnen herunterrieselt. Ich gehöre nun offiziell Nevis. So sehr mich der Gedanke auch freut, so sehr schmerzt der Abschied von Jesien und ich kann die Tränen in meinen Augen nicht verbergen. Sie rollen über meine Wangen und scheinen Jesien tief zu berühren. Er streicht mit seinen Daumen über meine Wangen und runzelt besorgt die Stirn.
»Leb wohl, Maya.«
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Bevor ich noch weinend zusammenbreche, eile ich an der Göttin vorbei in den Winter, wo Eiskristallaugen sich in mich hineinbohren.
Ich bekomme nicht mit, wie Gaia verschwindet und auch Jesien ist für den Moment vergessen. Immer noch ungläubig starrt mir der Winter ins Gesicht.
»Was willst du hier Maya?«, fragt er schließlich.
»Dich kennenlernen.«
»Wieso?«
»Weil diese Wahl für mich nun mal so funktioniert.«
Nun kehrt die von mir erwartete Wut in ihn ein. Er schnaubt, anscheinend, um sich selbst zu beruhigen und sieht sich um.
»Ich habe viel zu tun, Maya«, sagt er. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass du wirklich kommst.«
»Kann ich dir nicht verübeln.«
Er fährt sich durch das weiße Haar. »Ich bringe dich zu Iria. Leider muss ich dann sofort wieder weg.«
»Schon gut, dann kann ich mich in Ruhe in meinem neuen Zuhause umsehen.«
Nevis wirkt unglücklich über mein Erscheinen und das nagt ein wenig an mir. Hätte ich vielleicht doch seinen Wunsch respektieren sollen? Nun fühle ich mich wirklich wie der Fremdkörper, der ich in Gaias Welt zu sein scheine. Und in diesem Moment wandelt sich die Welt plötzlich um mich herum und weil Nevis mich dabei nicht wie Jesien festgehalten hat, gerate ich ins Schwanken. Der Winter kann mich gerade noch auffangen, bevor ich im tiefen Schnee liege. Meine Füße beginnen sofort zu frieren und die klirrend kalte Luft an meinen Wangen bringt sie schmerzhaft zum Glühen. Wir stehen oben auf einem Berg und der Wind pfeift unerbittlich an meinen Ohren vorbei. Aber das alles interessiert mich in dem Moment nicht. Die plötzliche Nähe zu Nevis lässt mich erstarren. Wir sehen einander in die Augen und ich habe das Gefühl, dass alles um uns aufhört zu existieren. Doch der Schein trügt.
»Komm«, ruft Nevis plötzlich gegen den kalten, heulenden Wind an. Ich drehe mich um und entdecke eine Berghütte aus dunklem Holz und einem prächtigen Satteldach. Vor der Tür sitzt Iria und erhebt sich, als sie uns sieht. Schneeflocken peitschen gemeinsam mit dem Wind an mir vorbei und nehmen mir ein wenig die Sicht. Ich weiß nicht, wie hoch wir sind und was am Fuße des Berges ist. Zu dicht ist der Schneesturm.
»Bring sie rein!«, höre ich eine sanfte, weibliche Stimme. »Göttin, … Nevis du hast sie halb erfrieren lassen!«
Ich sehe zu Iria und ihre Augen ruhen voller Sorge auf mir. Nevis öffnet die Tür und Wärme strömt mir entgegen. Es irritiert mich, da der Winter doch keine Hitze erträgt.
»Was habe ich dir gesagt? Sie ist gekommen«, sagt die Wölfin, nachdem Nevis die Tür geschlossen hat. »Hallo Maya, ich bin Iria.«
»Es freut mich, endlich mit dir reden zu können, Iria«, sage ich und weiß nicht so recht, was ich mit meinem Mantel voller Schnee machen soll. Nevis scheint das zu bemerken und nimmt ihn mir ab, ohne ein Wort dabei zu sagen.
»Ich habe dafür gesorgt, dass es hier warm ist, als Gaia kam um Nevis zu holen«, erklärt die Wölfin die Temperatur im Haus. »Komm doch rein ins Wohnzimmer und wärme dich auf.«
»Ich muss wieder weg, Iria«, sagt Nevis‘ eiskalte Stimme hinter mir. »Zeig ihr bitte alles.« Damit ist er auch schon verschwunden, denn als ich mich zu ihm umwende, ist dort nur noch die geschlossene Tür zu sehen.
»Ich wollte ihn gerade
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