Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
blinzelt er gegen die tiefstehende Sonne an, die sein Haar aufflammen lässt. Die Natur um uns herum wird zunehmend karger und ich beginne zu ahnen, wo er mich hinführt. Zum Winterübergang.
»Was wollen wir dort?«
»Du glaubst also zu wissen, wo wir hingehen?«
»Zu Nevis‘ Grenze«, rate ich und sehe in Jesiens braune Augen. Sie funkeln amüsiert auf.
»Ach, ich kann so schlecht Geheimnisse für mich behalten«, brummt er verärgert über sich selber. »Ja.«
»Und? Was machen wir dort?«
»Einfach nur hinübersehen.«
»Aha.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.
Jesien seufzt. »Ich hoffe für meinen Bruder, dass er das nicht vermasselt und dir die nächste Woche nicht zur Hölle macht.«
Zwischen den kargen Ästen und Tannen um mich herum kann ich die hohe Trennwand der beiden Welten erkennen. Auch wenn sie durchsichtig ist, hat sie doch dieses merkwürdige Schimmern. Wir treten aus dem Waldstück heraus und ich starre hinüber in das Land, vor dem ich mich am meisten fürchte. In welches ich mich aber auch zu sehnen scheine. Ich kann meine Augen gar nicht davon lösen. Ganz vorne liegt nur ein wenig Schnee auf den Baumspitzen, aber am Horizont ist alles weiß. Jesien kehrt ein paar verwelkte Blätter von einem umgefallenen Baum und deutet mir an mich zu setzen. Ich lasse mich neben ihm nieder.
»Und? Was fühlst du?«
»Ich bin aufgeregt.« Mein Herz pocht wie wild und meine Augen suchen die Gegend nach Nevis ab.
»Er kommt so gut wie nie zur Grenze«, sagt Jesien. »Ich habe schon oft hier gesessen.«
Ich fühle mich ertappt und … ergebe mich innerlich. »Was ist das nur, Jesien? Wieso zieht es mich so zu ihm?«
Der Herbst atmete erleichtert durch. »Endlich. Ein Einsehen!«
Ich sehe ihn abwartend an.
»Liebe ist höhere Gewalt, Maya.« Er betrachtet lächelnd seine Hände. »Nicht einmal Mutter beherrscht sie. Liebe ist zügellos, ungestüm und sehr eigenwillig. Zu versuchen sie zu erklären, wäre Blasphemie. Eine Macht, die nicht einmal eine Göttin zu lenken versteht, sollte man niemals unterschätzen oder sich ihr gar verwehren.«
Wie sehr wünsche ich mir in diesem Moment einen Blick auf Nevis zu erhaschen. Bald werde ich zu ihm gehen. Dann gehört er für ein paar Tage mir alleine. Die Gänsehaut auf meinen Armen ist dicker als Leder.
Als der Tag gekommen ist, an dem Jesien mich an Nevis übergibt, bin ich mehr als nur aufgeregt. Und unendlich traurig. Der Gedanke, Jesien zu verlassen, bereitet mir im gleichen Maße Unbehagen, wie die Aufregung, Nevis wiederzusehen Freude.
»Komm, mein Mädchen«, sagt der Herbst mit sanfter Stimme. Die Tage bei ihm waren so wunderbar gewesen. Wir haben viel gelacht, sind oft spazieren gegangen und ich habe ihm bei der Weinherstellung geholfen. Das Traubenzertreten hat mir dabei am meisten Spaß gemacht. Ich war nachher so voller rotem Saft, dass ich ausgesehen haben muss, als hätte ich ein Tier geschlachtet und nicht Trauben ausgedrückt.
Jesien zieht mich an sich heran und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
»Würdest du meinem Bruder nicht so viel bedeuten, ich würde dich für mich haben wollen.«
»Vielleicht komme ich ja zu dir«, sage ich mit belegter Stimme.
»Sag das nicht, Maya«, flüstert Jesien und hebt mit einer Hand mein Kinn an. Seine braunen Augen sind voller Trauer. »Kümmere dich um Nevis. Für mich.« Damit drückt er mir ganz sanft und zart einen warmen Kuss auf die Nasenspitze. Einen Moment lang sehen wir uns an und Jesien lächelt. »Mutter wartet sicher schon.« Er legt einen Arm um mich und ehe ich mich versehe, stehen wir bei Gaia. Im Arm hält sie einen weiten, weißen Mantel. Er ist dick gefüttert und bodenlang. Sie hält ihn mir hin und ich hülle mich darin ein. Erst jetzt traue ich mich durch die flimmernde Grenze zu sehen, doch Nevis ist nicht da.
»Ich schätze«, beginnt Gaia, »er hat nicht damit gerechnet, dass du wirklich kommst.« Ihre bunten Augen scheinen mich zu durchleuchten. »Sei ihm nicht böse, du bist die Erste.«
»Nein, ich bin nicht böse«, stammele ich nervös und reibe mir die Hände.
»Ich gehe ihn holen.« Damit verschwindet die Göttin und lässt mich mit Jesien alleine.
»Er kommt gleich«, sagt dieser und grinst. »Maya?«
»Ja?«
»Vergiss nicht zu atmen.«
Ich lache. »Nein, versprochen.«
»Versprichst du mir noch etwas?« Sein Gesicht wirkt ernst.
»Was denn?«
»Kommst du ab und zu zur Grenze?«
Ich kann nicht anders und muss lächeln. »Ja, wann?«
»Nevis wird es
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