Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
vergessen«, wimmere ich leise.
»Wir werden dich nicht vergessen, Maya. Niemals. Und damit lebt deine Erinnerung in uns ewig weiter.«
Ich gebe Jesien einen Kuss auf die Wange und stehe auf. Der Brief an Nevis gleitet aus meinen Händen zu Boden. Mit gesenktem Kopf will ich das Zimmer verlassen, doch Jesien lässt mich innehalten, als er erstaunt zischt. Ich drehe mich um und sehe ihn fragend an.
»Nevis ist an der Grenze«, sagt er.
»Was?«, schreie ich fast und beginne zu zittern. Neunundneunzig lange Jahre habe ich auf diesen einen Satz von Jesien gewartet. Unzählige Nächte habe ich davon geträumt, darüber nachgedacht bis es schließlich nur noch eine blasse, schwache Hoffnung in mir war, ihn jemals zu hören. Jesien läuft auf mich zu.
»Komm, mein Mädchen. Schnell!« Er ergreift meine Hände und ich spüre, wie der Boden unter mir verschwindet und ausgetauscht wird. Rasenden Herzens lasse ich Jesien los und sehe mich um. Ich muss nicht lange suchen, meine Augen finden Nevis sofort. Er steht in schwarzer Kleidung an der Barriere, hinter ihm tobt der Schneesturm. Es waren fast hundert Jahre … und noch immer … noch immer bohren sich diese stechend blauen Augen sofort in mein Herz. Meine rechte Hand wandert vor meinen Mund, damit ich nicht laut aufschluchze. Tränen rollen bereits darüber, während sich ein heftiger Schmerz durch mich gräbt. Ich zittere am ganzen Körper, als ich auf ihn zugehe.
»Nevis«, schluchze ich seinen Namen, als ob er mich hören könnte. Ich kann sehen, dass er etwas sagt, aber was, werde ich wohl nie erfahren. Seine blassen Hände legen sich auf die Barriere und ich lege meine auf der anderen Seite über sie. Nevis beginnt zu weinen und wirft einen Moment lang den Kopf zurück, als müsste er Wut niederkämpfen. Ich möchte ihm sagen, dass alles gut wird. Will ihn trösten, im Arm halten … küssen. Ihm scheint es genauso zu gehen, denn wir pressen uns beide an die Trennwand zwischen uns. Sein Gesicht ist jetzt ganz nah an meinem. Das Schimmern der Barriere verzerrt es ein wenig, aber ich kann genau sehen wie blass und ausgemerzt er aussieht. Seine Lippen bewegen sich langsam, flüstern etwas, was nur für mich bestimmt ist. Ich erkenne die Worte und sie durchfahren mich wie ein Blitz, der mich vor Verzweiflung vergehen lässt.
Ich liebe dich.
Ich stoße mich von der Wand ab und beginne wütend dagegen zu trommeln.
»LASS MICH ZU IHM, GAIA!«, brülle ich zum Himmel. Meine Fäuste beginnen zu schmerzen und als ich laut aufschreie, packen mich feste Arme.
»Ruhig«, höre ich die Stimme, die mir die letzten neunundneunzig Jahre das Liebste war. Ich schluchze und kralle mich an Jesien fest.
»Nevis«, wimmere ich erneut den Namen des Winters. Ich sehe zu ihm hinüber. Er steht mit etwas Abstand vor der Barriere und hat immer noch eine Hand auf ihr liegen. Durch die schwarze Kleidung sieht er noch blasser aus als sonst. Seine ganze Körperhaltung wirkt geschlagen. Ich löse mich von Jesien und gehe erneut zu ihm. Nevis schließt die Augen und schluckt, bevor er sich hinkniet und etwas in den Schnee zu schreiben beginnt.
Leb wohl, Maya. Ich
Nevis hält inne, steht auf und sieht in meine Augen. Er beendet den Satz nicht und ist im nächsten Augenblick verschwunden. Als mir klar wird, dass ich ihn nie wiedersehen werde, bleibt mir die Luft weg und ich sinke wie leblos zusammen.
Das gleiche Gefühl habe ich am nächsten Tag, als Gaia erscheint. Panisch klammere ich mich an Jesien fest. Ich habe die Nacht nicht geschlafen. Wie auch? Wie soll man schlafen, wenn man weiß, dass man am nächsten Tag stirbt? Schlaf kommt einem dann belanglos vor. Jesien war die Nacht über mit mir wach geblieben. Wir sind ein letztes Mal durch seine Apfelplantage gewandert und haben geredet.
»Ich will nicht sterben«, presse ich hervor. »Ich will nicht gehen.«
Die Göttin lächelt mich liebevoll an und meine Angst schwindet. Jesien nickt mir wissend zu und entlässt mich aus der Umklammerung. Gaias Macht durchströmt mich und beruhigt meine Muskeln und Knochen. Jesien beugt sich zu mir hinunter und führt sanft seine Lippen an meine. Hundert Jahre und dies ist unser erster und letzter Kuss. Seine braunen Augen werden feucht, als er mich danach ansieht.
»Danke für dein Leben, Maya. Ich weiß, du hast es dir anders vorgestellt.«
»Ich wünschte, ich hätte es mit euch vieren teilen können«, sage ich und drücke ein letztes Mal die warmen Hände des Herbstes. »Grüße alle
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