Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
Konturen und sind nicht mehr nur ein Fleck in meiner verschwommenen Sicht. Schluchzend und zitternd beginne ich dem Herbst zu erzählen, was mir seit unserem Abschied wiederfahren ist. Seine braunen Augen ruhen dabei voller Sorge auf mir und seine gekräuselte Stirn verrät, wie sehr er mit mir leidet. Als ich meine Geschichte beende und vor lauter Tränen wieder zu krächzen beginne, zieht er mich in seine Arme.
»Du musst dich um ihn kümmern«, flehe ich.
»Das werde ich«, verspricht er mir mit rauer Stimme. »Ich hoffe nur, er kommt zu diesen Abendessen.« Er weicht ein Stück von mir zurück und sieht mich an. Seine Rehaugen sind geflutet mit kristallklarem Wasser. Als er sie für einen Moment schließt, löst es sich und fließt still über seine Wangen.
»Sagst du mir, wenn er an der Grenze ist?«
Jesien nickt.
»Wir müssen einen Weg finden, Jesien. Wir müssen.«
Er schließt die Augen und weint eine weitere Träne. Ich sehe ihm an, dass er sich nicht traut zu sagen, was er denkt: Es gibt keinen.
Wir haben verloren.
Lieber Nevis,
ich hoffe, Jesien darf dir diesen Brief geben.
Bitte verliere nicht den Mut. Ich bin hier, ganz in deiner Nähe.
Du bist mein Leben, … meine Liebe gehört nur dir.
Bitte komm zur Grenze. Ich bin für dich da und warte auf dich.
Egal wie weh unser Wiedersehen tun wird, wir stehen das durch.
Ich liebe dich,
Maya
Ein Jahr später
»Und?«, frage ich wie jeden Freitagabend und reibe mir nervös die Hände. Und wie immer schüttelt Jesien voller Bedauern den Kopf.
»Wieder nicht.«
Nevis erscheint nie zum Essen mit seinen Brüdern.
Auch nicht an der Grenze.
Mein Brief an Nevis wird von Jesien wieder an seinen Platz auf der Ablage neben der Tür gelegt. Der Herbst kommt auf mich zu und zieht mich in seine warmen Arme.
»Durchhalten, mein Mädchen«, flüstert er mir zu.
Acht Jahre später
Zehn Jahre in Gaias Welt.
Egal wie oft mich Jesien in den Arm nimmt. Meine fühlen sich leer an.
Ich wünschte, ich hätte irgendetwas von Nevis.
Ich weiß nicht mehr, wie er gerochen hat.
Mein Kopf ist leer.
Fünfzig Jahre später
Noch vierzig Jahre.
Ich lache mit Jesien. Wir haben Spaß. Sowa und ich reden oft die Nächte durch, Jesien und ich trinken Wein und tanzen.
Doch mein Herz bleibt leer.
Kein Zeichen von Nevis. Die Winterwelt ist von einem Schneesturm verschleiert. Ich gehe oft mit Jesien an der Grenze spazieren, doch … nichts.
Egal was du tust, Nevis. Du bist mein Leben und ich warte auf dich, egal wie weh es tut.
Vierzig Jahre später
Die Ewigkeit muss verdammt lang sein, wenn mir schon hundert Jahre unendlich vorkommen. Morgen muss ich gehen, … meine Seele kommt in Gaias Garten ohne Aussicht darauf, mit der von Nevis oder Jesien wiedervereint zu werden. Jesien tröstet mich damit, dass ich meine Mutter und meine Freundin Iria spüren werde. Ich habe Angst.
»Hey«, raunt Jesien leise und setzt sich zu mir auf das Sofa. In meinen Händen halte ich den Brief, den ich vor unglaublich vielen Jahren an Nevis geschrieben habe. Die Tinte darauf ist fast nicht mehr zu lesen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagt der Herbst sanft und streicht mir über den Kopf. »Du glaubst dein Leben verwirkt zu haben, aber das hast du nicht.«
Ich sehe in seine braunen Augen.
»Du hast mich hundert Jahre lang glücklich gemacht, Maya … und ich …« Er stockt. »Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du morgen nicht mehr da sein wirst.«
Ich atme tief durch und versuche nicht zu weinen. Es gelingt mir nicht, also ziehe ich schnell Jesien in meine Arme und drücke ihn an mein Herz, um mein Gesicht an seiner Schulter zu vergraben.
»Du wirst mir auch fehlen.«
»Nein«, gluckst Jesien traurig. »Es wird dir gut gehen. Im Tod gibt es keine Trauer, keinen Verlust, … kein Vermissen.«
»Ich habe Angst.«
»Brauchst du nicht. Mutter nimmt dich an die Hand. Sie wird dich nach draußen in ein helles Licht führen. Alle Sorgen, jede Last auf deinem Herzen, werden von dir abfallen. Die Seelen deiner Lieben werden dich erwarten. Irgendwann wirst du vergessen und zu etwas Neuem werden. Von Maya ist dann nichts mehr übrig.«
»Und dann?«, frage ich aufgeregt durch den Gedanken, dass ich mich selbst verlieren werde.
»Deine Seele wird nach vielen Jahren der Ruhe und Erholung wiedergeboren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
Meine Augen werden riesig.
»Kein Wort mehr«, warnt mich Jesien. »Ich dürfte dir das alles nicht erzählen.«
»Ich will nicht
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