Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
»Wir finden einen Weg.«
»Und welchen?« Das Eis friert seine Augen ein und Nevis‘ Gesicht wird zu einer emotionslosen Maske.
»Ich weiß es nicht. Gib nur bitte nicht auf. Vielleicht kann ich mit deiner Mutter verhandeln?« Ich gehe auf ihn zu und will seine Hände ergreifen, doch er weicht mir aus.
»Sieh es ein, Maya.« Die eisige Stille in seiner Stimme bringt mich fast um. »Wir haben verloren.«
»Es ist nicht vorbei, Nevis. Ich werde nicht stillhalten. Ich habe Monate damit verbracht, zu dir zurückzukehren. Ich habe ungeahnte Kräfte in mir geweckt. Ich werde jetzt nicht aufgeben!«, schreie ich ihn förmlich an.
»Ich muss zurück oder dieser Planet stirbt«, sagt er so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern ist und dreht sich von mir weg. »Es tut mir leid, Maya. Ich war der festen Überzeugung, dass Mutter schon einen Weg finden würde, um das Eis zu erhalten.«
»Dann gehe ich auch zurück zu Jesien«, sage ich mit fester Stimme. »Dann können wir uns wenigstens sehen.«
»Du würdest deine Mutter und Freundin hier zurücklassen, nur um mich ab und zu durch eine durchsichtige Mauer ansehen zu können?« Er dreht sich mir wieder zu. »Maya, das ist Schwachsinn.«
Die Tränen beginnen mir die Stimme wegzuschnüren.
»Ich liebe dich Nevis«, krächze ich. »Und ja, ich bin lieber bei Jesien und kann dich manchmal sehen, als hier im Orden gefangen mit meiner Mutter, die mir die Entscheidung gegen Gaia nicht verzeihen wird. Iria schafft das schon.« Ja, das würde sie. Sie hat jetzt immerhin noch einen Vater und einen Bruder. Nevis hingegen … ich mag mir gar nicht ausmalen wie es ihm ohne seine Wölfin in seiner Heimat gehen wird. Er hustet und als er die Hand vom Mund wegnimmt kann ich Blut daran erkennen. Ehe ich Panik bekommen kann, geht die Tür auf und meine Mutter tritt hinter Gaia ins Zimmer. Die kleine Göttin schleicht auf ihren nackten Füßen förmlich herein. Als sie ihren Sohn im Zimmer stehen sieht, bekommt ihr Gesicht einen leidenden Ausdruck.
»Nevis«, haucht sie und öffnet ihre Arme, doch ihr jüngster Sohn bleibt stehen und starrt auf das Blut an seinen Händen. »Du musst nach Hause, wo du unsterblich bist.«
»Bekommt er wenigstens einen neuen Tiergeist?«, rufe ich einfach dazwischen und ignoriere den strafenden Blick meiner Mutter. Gaias Regenbogenaugen wirken unendlich traurig, als sie den Kopf schüttelt. Ich schlucke.
»Okay, er muss gehen, das verstehe ich.« Mir ist bewusst, dass ich nun alles auf eine Karte setze. »Ich jedoch nicht.«
Die Augen der Göttin weiten sich leicht.
»Ich komme mit, wenn die Brüder sich zwei Mal die Woche zum Abendessen treffen dürfen.«
»Maya«, kräht meine Mutter entsetzt. »Du kannst doch nicht …«
»Einmal im Monat«, unterbricht Gaia sie mit ernstem Ton.
»Einmal die Woche«, fordere ich und ich glaube, meine Mutter wird fast ohnmächtig. Die Göttin hingegen nickt und ich atme erleichtert durch. Jesien muss Nevis beruhigen bis mir etwas eingefallen ist. Gaia kommt näher an mich heran und legt eine Hand auf meine Wange.
»Du bist mir eine wahre Tochter«, sagt sie. »Ich danke dir für die Liebe, die du meinen Söhnen entgegen bringst.«
Dieses Mal nicke ich und versuche die Tränen in meinen Augen wegzublinzeln.
»Verabschiedet euch«, fordert Gaia sanft und Nevis‘ und mein Blick treffen sich. Jede Luft weicht aus meinen Lungen, als er den Kopf schüttelt und kurz darauf verschwindet.
»NEIN!«, schreie ich entsetzt und renne zu der Stelle, wo er gestanden hatte. »Nein, … nein, … nein.«
»Es tut mir leid, er wollte gehen, Maya«, höre ich Gaia wie durch Watte sagen. In meinen Ohren rauscht es, mein Kopf dröhnt und meine Rippen klemmen meinem Herzen den Platz ab.
Ich wollte ihn noch einmal küssen.
Einmal berühren.
Weg. Nevis ist weg.
»Was zum …«, ruft Jesien aus, der auf einem Fass gesessen und an einem Apfel geknabbert hat, als Gaia und ich auf einmal vor ihm stehen. Er springt sofort auf und kommt auf uns zu. Der Apfel fliegt ins Gras und er schlingt die Arme um mich.
»Was ist passiert, mein Mädchen?«
Ich bekomme kein Wort heraus. Zu sehr schmerzt Nevis‘ plötzliches Verschwinden und der erneute Abschied von Iria und meiner Mutter.
»Heiliges Herbstlaub«, stöhnt Jesien und hebt mich in seine Arme. Ich kann vor lauter Tränen nichts sehen, doch ich werde auf etwas Weiches gelegt und in eine warme Decke gehüllt. Es dauert eine Weile und seine roten Haare bekommen wieder
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