Morituri - Die Todgeweihten
Geschichte gelaufen war. Warum hatte er es trotzdem getan? Raschid war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass ihm sein Preis zur rechten Zeit einfallen würde.
Pavy fragte ihn, von Gangster zu Gangster, nach anderen politischen Schlachten, in die er verwickelt gewesen war, wobei sie ihm die Möglichkeit ließ, alles wegzulassen, was ihn belasten konnte. Soweit Raschid sich erinnerte, war das die erste Wahl, bei der er jemals mitgewirkt hatte, also log er. Politische Ereignisse sprudelten nur so aus ihm heraus, mit Siegen und verzweifelten Rückschlägen und Aufsehen erregenden Comebacks. Während er erzählte und sie die Gläser nicht leer werden ließ, beschlich ihn das eigenartige Gefühl, dass er überhaupt nicht log.
Schließlich wurde es spät. Zeit zu gehen. Pavy ließ die Hand über dem Kopf schweben, mit dem sie ihre Leibgarde hereinrufen würde, damit sie ihren Besucher hinausbegleitete. Dann lächelte sie ihn plötzlich auf ganz seltsame Weise an. Ein schimmerndes Lächeln, mit sehr weichen Lippen und großen, verlangenden Augen.
»Wenn Sie möchten, könnten Sie noch etwas länger bleiben«, flüsterte sie sanft und strich mit ihren langen Fingernägeln über den mikrodünnen Bodysuit. Das kratzende Geräusch jagte Raschid einen Schauer über den Rücken.
Er zog ihre Bitte in Betracht, denn um nichts anderes handelte es sich. Warum fühlte sich diese Frau plötzlich so zu ihm hingezogen? Dann erkannte er den Grund. Es war die Tatsache, dass er so dicht an der Macht lebte – an der echten, unverfälschten Macht. Aber er war doch nur Raschid. Oder etwa nicht? Wo war also die Macht? Dann wusste er, dass sie da war. In ihm. Aber er wusste nicht, warum. Auch nicht, wer dahintersteckte. Noch nicht.
Raschid blieb über Nacht.
Der fünfundvierzigste Bezirk war einer von Tyrenne Yelads kleineren Amtsbezirken. Das war nicht immer so gewesen. Zu den Haupterwerbsquellen in diesem rasch wachsenden Stadtviertel gehörten Aufträge in Spritzkunststoff für das massive Bauprogramm des Tyrenne. Vor dem Zusammenbruch der AM 2 -Versorgung war ganz Dusable auf die eine oder andere Art an diesen Projekten beteiligt gewesen. Brücken wurden errichtet, die noch voll funktionstüchtige und perfekte Bögen in nur wenigen Kilometern Entfernungen ersetzten. Außerdem wurden jede Menge unnötige Straßen gebaut. Oder hohe, glitzernde Bürotürme, an denen immerwährender Mangel bestand. Der Grund dafür war, dass jedes Mal, wenn wieder Gelder in die öffentlichen Kassen flossen, Bedarf nach neuen Dienststellen mit Protektion entstand. Einzelne Abteilungen kämpften ständig gegen andere Abteilungen um mehr Angestellte, denn mehr Angestellte bedeutete mehr Macht und damit mehr schicke Bürogebäude, die das Prestige und damit wiederum die Mordida erhöhten.
Deshalb bestand immer eine enorme Nachfrage nach Spritzkunststoff. Der 45. Bezirk hatte sich immer damit gerühmt, die dünnste Suppe zum höchstmöglichen Preis zu liefern. Die gewaltigen Gewinnspannen hielten das System am Laufen.
Dann kamen die schlimmen Zeiten. Yelad war gezwungen, einen seiner Bezirke von der Spritzkunststoff-Schiene abzukoppeln. Jeden Tag bildeten sich lange Schlangen vor der Tür des Bezirkshauptmanns, die auch am Abend nicht nennenswert kürzer wurden.
Als der Dienstgleiter durch das Viertel summte, wurde er mit ruhigem, aber aufmerksamem Interesse beobachtet. Seine verdunkelten Fenster waren zwar geschlossen, doch es war kein Geheimnis, wer darin saß. Dafür sorgte schon die kleine Standarte von Tyrenne Yelad. Er kreuzte langsam durch das Viertel, als wollte er die geschlossenen Läden und die Schilder mit der Aufschrift »Zu verkaufen« vor den Geschäften inspizieren. Die Leute des 45. Bezirks, die sich an diesem Tag auf der Straße aufhielten – und es waren nicht wenige, da Arbeitsplätze dünn gesät waren –, fragten sich, was wohl der Anlass für solch hohen Besuch sein mochte.
Hatte der große Tyrenne Yelad etwa eine Überraschung für sie mitgebracht? Einen Bonusvertrag für Spritzkunststoff? Einige heruntergekommene Fahrzeuge folgten der Staatskarosse in gebührendem Abstand.
Der Gleiter des Tyrenne bog in die Straße zum Haus des Bezirkshauptmanns ein. Aha! Gute Nachrichten.
Plötzlich beschleunigte der A-Grav-Gleiter. Gerade so, als hätten ihn wichtige Nachrichten erreicht und der Fahrer unverzüglich wieder den Rückweg eingeschlagen.
In diesem Augenblick rannte ein kleiner, dicklicher Junge einem Ball hinterher auf die
Weitere Kostenlose Bücher