Morituri - Die Todgeweihten
der vielen schlechten Angewohnheiten, denen er nach all den Jahren unangefochtener Wahlsiege verfallen war.
»Was soll das heiß’n, du weiß nich, wer dahintersteckt? Wofür bezahle ich euch Blödmänner eigentlich? Faule, stinkende Säcke, das seid ihr, und nix anderes. Dreck unter meinen Füßen.«
Er wütete und polterte. Seine Helfer verhielten sich still und warteten, bis der Sturm abflaute. Doch er flaute nicht ab.
»Ich sage euch, wassa los ist! Essis dieser verdammte Kenna. Versucht’s auf die schlaue Tour. Genau, und zwar … Wir werden ja schon sehen, ganz bestimmt. Ich halte den Kerl auf, habt ihr gehört! Blöde Säcke, elende kriecherische Saubande … das seid ihr, und das ist los, sonst nichts!«
Es dauerte lange und bedurfte einiger Beschwichtigungen, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte und dazu in der Lage war, seine Anweisungen zu geben. In diesen miesen Zeiten brauchte er unbedingt ein Mandat. Ein Mandat von historischen Proportionen.
Die Wahlkampfteams und Schlägertrupps wurden verdoppelt, die Zahl der angeheuerten falschen Wähler verdreifacht. Außerdem warteten in der Reserve jene Wähler aus der Gruft, die man in die Waagschale werfen konnte, wenn die Stimmen ausgezählt wurden.
Tyrenne Yelad hatte finanzielle Reserven genug. Was ihm fehlte, war Organisation. Nach so vielen siegreichen Jahren benötigte er ein viel kleineres Team zur Koordination seiner Wahlkampagne. Jetzt ließ er ganze Hundertschaften von Schurken einstellen, die sofort in Bewegung gesetzt wurden, sich jedoch oft gegenseitig behinderten und schon vor der letzten Runde zu Boden gingen. Zuvor ereilte ihn jedoch der heftigste Schlag, am Abend nach der Versammlung. Weniger als 48 E-Stunden vor der Wahl.
Als Kenna auf die große Bühne unter freiem Himmel tänzelte, sah Raschid ruhig vom Rande des Geschehens aus zu. Seine Blicke schweiften über das Publikum, um sicherzugehen, dass seine Stimmungsmacher auf ihren Posten standen und sich bereits daran gemacht hatten, der gewaltigen Zuschauermenge die Sporen zu geben. Jedes Livie-Nachrichtenteam auf Dusable war gebucht worden. Sogar Yelads Hofberichterstatter kamen herbeigeeilt, nachdem man die Nachricht wenige Stunden vor Kennas regulär angekündigter Rede hatte durchsickern lassen. Es hieß, dass bei diesem Ereignis grundlegende und unerwartete Entwicklungen verkündet werden sollten. Überwältigt von dem betäubendsten aller Gerüche, vergaßen die Nachrichtenteams sämtliche Loyalitäten: es roch nach politischem Meuchelmord.
Kenna stellte sich in Positur. Der von den Stimmungsmachern entfachte Jubel war ohrenbetäubend. Solon Kenna verneigte sich in aller Bescheidenheit, hob andeutungsweise eine Hand und bat breit grinsend um Aufmerksamkeit: »Hört schon auf … Danke …
Die Freundlichkeit, die ihr mir entgegenbringt, habe ich eigentlich nicht verdient. Danke schön.«
Genau in dem Moment, in dem das Publikum wirklich dachte, es sollte sich ruhig verhalten, drückten die Claqueure noch einmal auf die Tube. Der Jubel und der Beifall schwollen sogar noch an. Raschid spielte dieses Spielchen fast eine halbe Stunde lang, dann beruhigte sich die Menge auf eine Handbewegung von ihm allmählich.
Kenna lachte und dankte allen für einen so spontanen und wohltuenden Empfang. Dann verwandelte sich sein Gesicht in eine ernste Maske der Weisheit. Er sprach seine lange Karriere im Dienste der Öffentlichkeit an, brachte noch einmal alle langen und schweren Kämpfe in Erinnerung, die er zum Wohle seiner Zuhörer durchgefochten hatte. Dann gab Kenna zu, dass er im Lauf seiner Kampagne von Zweifeln gepackt worden sei. Er erläuterte, dass er sich bereits in fortgeschrittenem Alter befände und sich nicht mehr sicher sei, ob er wirklich der Richtige sei, das Banner des Tyrenne zu übernehmen.
Die Menge verstummte. Der eine oder andere begriff, worauf Kenna hinauswollte. Einige Rufe »Nein … nein!« wurden laut. Raschids Magie bestand darin, dass sie tatsächlich spontan klangen, nicht wie die Arbeit der Stimmungsmacher. Schließlich kam Solon Kenna zum Ende. Er legte eine kleine dramaturgische Pause ein. Dann fuhr er fort:
»Ich habe den Ansichten meiner Gegenspieler höchst aufmerksam gelauscht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nur eine Stimme gibt, die voller Wahrhaftigkeit für uns alle spricht. Deshalb verkünde ich hiermit … dass ich freiwillig aus dem Rennen ausscheide … und –«
Die Menge wollte gerade in einen wütenden Tumult
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