Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
gerade gesagt ...«
»Ich bin direkt nach meiner Geburt adoptiert worden.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Du bist auch ein Gist ?«
Tess zögerte, dann nickte sie. Obwohl sie dieses Wort noch nie gehört hatte, ahnte sie instinktiv, dass es mit ihr zu tun hatte, dass es eine Antwort auf all ihre Fragen war. Trotz der Anspannung konnte sie die Erleichterung im Gesicht des Jungen erkennen. Und auch ihr ging es ähnlich. Es gab noch jemanden wie sie. Tess war nicht mehr allein. Sie versuchte sich wieder gerade hinzustellen und drückte den Rücken durch. Zwei Gleise weiter fuhr ein Zug an ihnen vorbei. »Du wirst mir alles darüber erzählen, doch jetzt müssen wir von hier verschwinden.«
»Dann nimm meine Hand«, sagte York.
»Nein, nein, nein! Kommt überhaupt nicht infrage. Mir ist schon schlecht.«
»Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig springen werde«, sagte York. »Wir kommen ohnehin nicht weit. Ich kann nur die Orte besuchen, an denen ich schon einmal war. Und das sind nicht viele.«
»Weißt du schon, wo du dich verstecken kannst? Ich meine, hast du irgendeinen Unterschlupf?«
»Ich habe noch nicht einmal Freunde«, sagte er. »Das macht die ganze Sache etwas komplizierter.«
»Dann hat dich heute der Blitz des Glücks doppelt getroffen. Wir müssen nach Tyndall, aber vorher würde ich gerne mein Fahrrad holen. Ist das in Ordnung?«
Er nickte. »Egmont sollte fort sein.« York ergriff ihren Arm. »Mach besser die Augen zu, dann wird dir vielleicht nicht schlecht.«
***
Der Direktor holte eine Trillerpfeife aus seiner Jackentasche und pfiff laut auf ihr. Kurz darauf jaulte eine Sirene auf, deren Heulen so durchdringend war, dass Lennart dachte, so müsse der Weltuntergang klingen, wenn er dereinst anbräche.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, schrie der Direktor. Selbst im Sicherheitstrakt war der Alarm so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Lennart machte eine Geste, die Verständnis ausdrücken sollte, und sein Begleiter eilte davon. Lennart musste lachen, als ihm dasAbsurde dieser Situation bewusst wurde. Einem Jungen von fünfzehn Jahren gelang es, ohne Hilfsmittel innerhalb kürzester Zeit aus einem der am besten bewachten Gefängnisse zu entkommen. Hakon Tarkovski hatte offenbar eine sehr mächtige Gabe. Aber hatte Magnusson Lennart nicht gewarnt?
Magnusson ist ein Lügner.
Lennart zuckte zusammen, als sich diese Worte in seinem Verstand manifestierten.
Ich bin kein Eskatay, ich bin ein Gist.
Lennarts Rücken versteifte sich, als hätte jemand mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel gekratzt.
»Hakon Tarkovski?«, fragte er.
Ja.
»Wo bist du?«
Hier.
»Dann zeig dich!«
Eine Gestalt trat aus dem Schatten. Es war tatsächlich der Junge aus dem Zirkus und er befand sich in einem bedauernswerten Zustand. Das Kostüm, das er bei der Vorstellung getragen hatte und nun vor Schutz starrte, war an einigen Stellen zerrissen. Hakon selbst war in einem erbärmlichen Zustand. Tränenspuren zeichneten sich in seinem staubigen Gesicht ab.
Lennart hätte ihm am liebsten die Hand auf die Schulter gelegt, ihn vielleicht sogar in den Arm genommen, so leid tat er ihm. Aber er zögerte. Wie hatte Magnusson Hakon genannt?
»Manipulativ«, kam die Antwort.
»Das im Zirkus, das war kein Trick gewesen, nicht wahr? Du kannst tatsächlich Gedanken lesen.«
Hakon nickte.
»Und meine Erinnerungen sind wie ein offenes Buch für dich?«, fragte Lennart vorsichtig.
»Ja. Alle. Die guten wie die weniger guten.«
Lennart zuckte zusammen. Er fühlte sich plötzlich nackt und ausgeliefert.
Der Junge lächelte schwach. »Das muss Ihnen nicht peinlich sein. Sie kennen meine Geheimnisse noch nicht, aber das lässt sich ändern. Geben Sie mir Ihre Hand.«
»Was hast du vor?«, fragte Lennart misstrauisch.
»Es ist wichtig, dass Sie mir vertrauen. Deswegen sollen Sie alles über mich erfahren. Und hören Sie auf, ständig darüber nachzudenken, was dieser Magnusson gesagt hat. Wenn Sie wissen, wer ich bin, werden Sie den Staatssekretär anders einschätzen.«
Langsam streckte Lennart seine Hand aus. Hakon ergriff sie und drückte zu, so fest er konnte.
Lennart wurde in einen tiefen, eiskalten See geworfen und zog scharf die Luft ein. Sämtliche Erinnerungen an ein fremdes Leben stürzten ungefiltert auf ihn ein. Hakon behielt nichts für sich, weder die größten Niederlagen noch die triumphalsten Siege. Keine Peinlichkeit und keine noch so intimsten
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