Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
schnalzte mit der Zunge. Verdammt, Egino war doch dümmer, als sie vermutet hatte. Er hatte kein Gespür dafür, wann sich ein Kampf lohnte und wann er aussichtslos war. Im Gegenteil, er würde aus Stolz und Übermut den Aufstand auf die Spitze treiben. Der morgige Tag würde schwarz werden. Sehr schwarz.
Tess schob das Tablett von sich fort. Ihr war der Appetit auf Hafergrütze vergangen.
Dass etwas im Busch war, schien die Heimleitung zu ahnen. Tess wusste, dass es unter den Kindern einige Ratten gab. Ratten waren Verräter, die für besseres Essen und leichtere Arbeit die anderen Kinder bespitzelten. Normalerweise wurden die Mädchen und Jungen nach dem Abendappell in ihre Schlafsäle eingeschlossen, und zwar allein. Diesmal jedoch hielten je zwei Aufseher Wache, grobschlächtige Kerle, an deren Gürtel schwere Holzknüppel hingen. Sie beließen es nicht dabei, auf ihren Holzstühlen sitzen zu bleiben, sondern schritten mit ihren genagelten Stiefeln in regelmäßigen Abständen die Reihen der Betten ab.
An Schlaf war nicht zu denken. Tess wusste nicht, wie die Situation im Schlafsaal der Jungen war, aber sie hatte Angst, dass es in dieser Nacht zu Übergriffen kommen würde. Die Wächter brauchten nicht immer einen Grund, um zuzuschlagen.
Das kommunale Waisenhaus war das einzige Zuhause, das sie kannte, und es hatte sogar einige Erzieher gegeben, zu denen sie im Laufe der Jahre Vertrauen gefasst hatte, die waren jedoch schon lange nicht mehr da. Man munkelte, dass sie aus Protest gegen die unhaltbaren Zustände den Dienst quittiert hatten. Danach war es richtig schlimm geworden. Visby führte ein Regiment, das man wohlwollend als streng bezeichnen konnte, in der Tat aber diktatorisch war. Nur wer arbeitet, bekommt auch etwas zu essen. Das war eine seiner Maximen. Die andere lautete: Teile und herrsche. Ratten konnten mit einer Sonderbehandlung rechnen. Wer sich anpasste, wurde in Ruhe gelassen. Und wer sich so aufsässig wie Egino aufführte, hatte es verdammt schwer. Tesshatte versucht, einen vierten Weg einzuschlagen, und der hieß: Augen zu und durch. Nimm mit, was dir nützt, und versuche ansonsten unsichtbar zu bleiben. Bis zum heutigen Tag hatte das auch geklappt, aber nun spürte sie das Vorbeben einer Veränderung, die ihr überhaupt nicht gefiel. Visby hatte sich immer mehr von einer harten, aber auf seine Weise wohlmeinenden Vaterfigur zu einem paranoiden Despoten entwickelt, dessen Boshaftigkeit im drastischen Gegensatz zu seiner schmächtigen, beinahe zerbrechlichen äußeren Erscheinung stand. Kurz: Das kommunale Waisenhaus Nr. 9 hatte sich innerhalb weniger Jahre von einer leidlich akzeptablen Verwahranstalt elternloser Kinder in ein seelenloses Arbeitshaus verwandelt, dessen gesichtsloses Personal alle sechs Monate wechselte, weil es offenbar noch nicht einmal die Erzieher hier lange aushielten. Und auch Tess spürte, dass ihre Strategie des Sich-unsichtbar-Machens sie bald nicht mehr schützen würde. Sie würde Stellung beziehen müssen.
Gelegenheit dazu bekam sie beim Frühstück. Die Hälfte der Kinder verweigerte das Essen und blieb reglos auf ihren Plätzen sitzen, allen voran als Rädelsführer natürlich Egino, der sich in Anbetracht der Zahl seiner Gefolgsleute ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Und dieses Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, als er sah, dass sich Tess ebenfalls nicht in die Schlange gestellt hatte.
Der Protest blieb stumm. Niemand rief Parolen, keiner verzog eine Miene. Tess lief es kalt den Rücken hinab. Diese totale, lautlose Verweigerung war in der Tat bedrohlicher als ein offener Aufstand.
Als nach einer Viertelstunde das Frühstück offiziell beendet war, begaben sich die Kinder, die sich nicht am Streik beteiligten, in ihre Klassenräume. Bis jetzt hatte die Heimleitung noch nicht eingegriffen, aber als nur noch die Verweigerer im Speisesaal saßen, hörte Tess den knallenden Gleichschritt genagelter Stiefel vom Korridor näher kommen. Sekunden später waren zwanzig Aufseher im Speisesaal und bezogen an den Wänden Stellung, den Holzknüppel in der Hand. Dann kam Visby.
Tess hatte nur selten die Gelegenheit gehabt, den Direktor aus nächster Nähe zu sehen, und sie erschrak bei seinem Anblick. Die Augen glänzten rot, als hätte er schon zu dieser frühen Stunde zu tief ins Glas geschaut. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, der Bart war struppig und ungepflegt. Die mit Ei und Marmelade befleckte Weste hatte er falsch geknöpft. Doch das war nichts
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