Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
ausgerichtet und schienen nur einem Zweck zu dienen: das leuchtende Herz dieser Stadt mit allem zu versorgen, was es brauchte, um unentwegt weiterzuschlagen. Tess riss sich von dem Anblick los und untersuchte den Stadtplan, der sich unter der Tabelle der Abfahrtszeiten einer Bushaltestelle befand, genauer. Wenn sie ins Stadtzentrum laufen wollte, musste sie einen längeren Fußmarsch in Kauf nehmen. Aber sie hatte Zeit und ohnehin kein Geld, um die dampfbetriebenen Doppelstockbusse zu benutzen, die im Zehnminutenrhythmusdie breite Straße befuhren, die an den Park grenzte. Tess studierte noch einmal den Stadtplan. Die breite Straße trug den Namen Brandenberg-Prospekt und durchschnitt die Stadt in Ost-West-Richtung. Die wie auf einem Schachbrett angeordneten Parlamentsgebäude und Ministerien befanden sich am Ufer der Midnar, einem Fluss, der, wie sie wusste, vierzig Meilen weiter östlich bei Vattborg ins Meer mündete. Es gab nur einen kleinen Stadtkern, der organisch gewachsen zu sein schien, was Tess aus dem Gassengewirr auf dem Plan schloss, aber der befand sich am südlichen Midnarufer, wo der Fluss beinahe eine Hundertachtzigradkehre machte. Dieses Viertel hieß Süderborg und man konnte noch den gezackten Grundriss der alten Befestigungsanlage erkennen, aus dem später die Hauptstadt Morlands erwachsen war. Ansonsten war Lorick von einem großzügigen Grüngürtel umgeben. Der Park, in dem Tess fast den gesamten Vormittag verbracht hatte, trennte die östlichen Bezirke von der Innenstadt.
Wie auch immer, sie konnte nicht hier stehen bleiben und darauf warten, dass etwas geschah. Sie glaubte nicht an Wunder und schon gar nicht an solche, in denen eine Fee auftauchte, um einem alle Sorgen von den Schultern zu nehmen. Tess war eine Fremde in einem fremden Land, obwohl sich das Waisenhaus inmitten der Stadt befunden hatte. Ihre Freunde saßen noch immer hinter den Mauern des Waisenhauses. Tess wollte sich nicht vorstellen, was Visby jetzt mit ihnen anstellte. Das, was sie heute Morgen am eigenen Leibe erfahren hatte, war erschreckend genug.
Bei dem Gedanken an ihre spektakuläre Flucht versuchtesie noch einmal jenes Gefühl heraufzubeschwören, als sie die Wächter einfach wie in Trance beiseitegestoßen hatte. Es gelang ihr nicht.
Tess lief den Brandenberg-Prospekt entlang nach Westen und sog die Eindrücke der Stadt wie ein Schwamm auf. Auf den Straßen waren viele Menschen unterwegs. Niemand war in Eile, doch schien jeder ein Ziel zu haben. Die Frauen trugen lange Kleider in leuchtenden Farben mit weiten Röcken und Hüte mit Schleier oder kleinen Blumengebinden, die Männer Hüte, elegante graue Anzüge, Hemden mit Stehkragen und modische Seidenhalstücher. Manche hatten sogar eine Blume im Knopfloch, als wären sie zu einem Rendezvous verabredet.
Je näher sie dem Stadtzentrum kam, desto mehr veränderte sich der Charakter der Gebäude. Waren es zunächst Bürohäuser mit abweisenden Backsteinfassaden gewesen, sah Tess nun immer häufiger Geschäfte, die ihre Waren in großzügig gestalteten Auslagen präsentierten.
Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie die Blicke der anderen Passanten auf sich zog. Als sie ihr Spiegelbild in einem der großen Schaufenster sah, erkannte sie warum. Zum einen war sie das einzige Kind auf der Straße. Zum anderen war ihr Aufzug so schmutzig, ärmlich und heruntergekommen, dass sie selbst erschrak.
Das graue Kleid war fleckig und am Saum eingerissen, die spindeldürren Beine steckten in Schuhen, von denen sich die Sohle löste. Das hellrote, lockige Haar stand zerzaust nach allen Seiten ab und ihr Gesicht war schmutzig. Tess fluchte. So wie sie aussah, hätte sie sich auch gleich ein Schild um denHals hängen können mit der Aufschrift: aus dem Waisenhaus entlaufen! Wenn sie nicht über kurz oder lang von einem Polizisten aufgegriffen werden wollte, musste sie untertauchen. Visby hatte bestimmt schon längst ihre Beschreibung herausgegeben.
Also durchstreifte sie weiter die Stadt, hielt sich jedoch von belebten Straßen fern und versuchte sich so unsichtbar wie möglich zu machen.
Die schmalen Gassen hinter den pompösen Hausfassaden enthüllten ein anderes Bild der Stadt. Hier türmte sich der Müll und Unrat einer Gesellschaft, die im Überfluss zu leben schien. Tess schüttelte ungläubig den Kopf. Die Dinge, die andere Leute wegwarfen, wären im Waisenhaus ein regelrechter Schatz gewesen. Sie entdeckte ein Paar Schuhe, kaum getragen, aber leider zu groß. Einen kurzen
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