Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
ich konnte tatsächlich die Gedanken dieser Bauern lesen.«
Seine Schwester runzelte die Stirn, starrte aber noch immer ihre Füße an.
»Es ist wahr, ich schwöre es«, sagte er verzweifelt. »Du weißt doch, dass ich schon immer gut darin war, mich in andere Leute hineinzuversetzen. Darauf baute meine Nummer immer auf. Und genau so ist es jetzt auch, nur dass es um einiges stärker ist. Ich sehe Bilder und höre manchmal sogar, was die Menschen denken.«
»Machst du das auch bei mir?«, fragte Nadja kühl.
»Nein«, flüsterte Hakon. »Ich habe keine Ahnung, wie es passiert. Aber in der Regel geschieht es, ohne dass ich es kontrollieren kann.«
Jetzt sah Nadja ihm direkt in die Augen.
»Auf diesen Bauern war ich wütend«, fuhr Hakon fort. »Verstehst du, da sitzt dieser selbstgerechte Kerl, der Gerissenheit mit Intelligenz verwechselt, und stellt mich vor allen Leuten als Betrüger hin.«
»Na und? Bist du etwa keiner?«, fragte Nadja.
»Was ?«, fragte Hakon verwirrt.
»Nun, du stehst in der Manege und versuchst das Publikum mit ein paar Tricks hereinzulegen.«
Hakon war jetzt vollkommen durcheinander. So hatte seine Schwester noch nie zu ihm gesprochen. »Ich bin kein Betrüger«, stammelte er. »Ich versuche, die Leute zu unterhalten! Immerhin schlage ich ja keinen Vorteil aus meinen Fähigkeiten.«
»Hm«, machte Nadja nur und schaute wieder auf ihre Füße.
»Verdammt noch mal, worauf willst du hinaus?«, flüsterte er aufgebracht.
»Ich will auf gar nichts hinaus«, sagte Nadja. »Das ist einfach zu viel für mich, kannst du das nicht verstehen? Als wir in diesem Amt waren, habe ich gespürt, dass du den Beamten auf eine ziemlich unheimliche Art dazu gebracht hast, gegen seinen Willen dieses Formular auszufüllen.« Sie machte eine hilflose Geste. »Du hast ihn angestarrt, als wolltest du ihn mit deinem Blick töten! Kannst du dir nicht vorstellen, wie beängstigend das ist?«
»Meinst du etwa, mir ist das geheuer?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Sag mir, was ich tun soll! Wenn du einen Weg findest, wie ich es abstellen kann, wäre ich dir dankbar.«
Nadja hob ihren Blick und sah ihn traurig an. »Weißt du, das würde ich dir ja gerne glauben. Aber da war noch etwas anderes in deinem Blick gewesen.« Sie stand auf. »Du hast es genossen. Du hast diese Macht, die du über den Mann hattest, bis ins Letzte ausgekostet. Deswegen habe ich Angst vor dir.« Dann stand sie auf und ging.
Hakon sprang auf. »Nadja! Warte!«
Aber sie schaute sich nicht einmal mehr um.
Hakon ballte wütend die Faust und hätte am liebsten laut gebrüllt, bis auf einmal sein wahres Ich wieder die Kontrolle übernahm. Schwer atmend und noch immer um Fassung ringend, setzte er sich hin. Dass er die Gedanken anderer Menschen lesen konnte, war nicht nur ein Segen, sondernauch ein Fluch. Es war nicht so, dass er nur Ausschnitte eines fremden Lebens zu sehen bekam, sondern es war wie der komplette Transfer einer fremden Persönlichkeit mit all ihren Gefühlen und Erinnerungen in sein Bewusstsein. Er wusste nicht nur, wer Boris Marklund war und was er getan hatte. In dem Moment, als sich das Leben des Bauern vor ihm ausgebreitet hatte, wurde das Wesen dieses ziemlich unangenehmen Menschen auch zu einem Teil von Hakons Persönlichkeit. Er konnte auf einmal die Welt durch Marklunds Augen sehen und die selbstgerechten Entscheidungen, die er getroffen hatte, nachvollziehen, obwohl der Teil, der noch immer der alte Hakon war, sich am liebsten deswegen übergeben hätte. Und genau so war es ihm mit dessen Frau Annegret gegangen. Er hatte ihre Verzweiflung gespürt und ihre Angst vor der Entdeckung ihrer Schwangerschaft. Aber die Boshaftigkeit Marklunds war in diesem Moment stärker gewesen und Hakon hatte das Geheimnis mit einer gehässigen Freude verraten.
Hakon schloss die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die Wand des Wagens. Er fühlte sich müde, ausgelaugt – und verzweifelt. Hakon musste lernen, seine Gabe besser zu kontrollieren, sonst würde es ein Unglück geben.
Noch am selben Tag machten sich Boleslav, Hesekiel und Hakon auf den Weg, um den Stellplatz in Norgeby zu inspizieren, der sich hinter dem Spritzenhaus befand. Hakons Vater war vor allen Dingen wegen des angrenzenden Löschteichs sehr mit der Lage zufrieden. Oft genug war die Wasserversorgung das größte Problem.
Norgeby war ein malerischer Ort. Die Backsteinhäuser waren gepflegt und in den Vorgärten wuchsen Blumen in kunstvoll arrangierten,
Weitere Kostenlose Bücher