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Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay

Titel: Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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hielten. Lennart warf einen Blick über die Schulter. Kein einziger Platz war mehr frei, die Vorstellung war ausverkauft. Er konnte Kinder hören, die draußen weinend bettelten, doch noch hereingelassen zu werden.
    Der Zugang wurde verschlossen und die Zirkusdiener bliesen eine Fanfare, woraufhin der Direktor, gekleidet in eine Fantasienuniform, mit weit ausgebreiteten Armen die Manege betrat. Beifall brandete auf. Während die Erwachsenen freundlich klatschten, trampelten die Kinder mit den Füßen und pfiffen auf den Fingern. Auch Maura und Melina waren völlig aus dem Häuschen.
    »Herzlich willkommen im Zirkus Tarkovski«, rief der Direktor und zwirbelte seinen mächtigen Schnurrbart. Die Menge johlte, woraufhin er sich elegant verneigte. Immer wieder machte er eine Geste, als würde er diesen Beifall gar nicht verdienen, dann aber hob er die Hand und bat um Ruhe.
    »Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kinder! Wir freuen uns, heute in Norgeby zu Gast sein zu dürfen.«
    Wieder Beifall, wieder Gejohle. Der Direktor schien den Tumult sichtlich zu genießen.
    »Auf Sie warten heute Attraktionen der besonderen Art. Ich will nicht zu viel verraten, sondern möchte gleich mit der ersten Darbietung beginnen. Begrüßen Sie mit mir Rosie und Marguerite, unsere siamesischen Zwillinge! Applaus, meine Damen und Herren!«
    Lennart hatte die Mädchen vor dem Zelt schon gesehen und sich gefragt, ob die beiden echte siamesische Zwillinge waren. Da hatte er aber noch nicht ihren Unterleib gesehen. Tatsächlich waren die Schwestern nicht nur an den Hüften zusammengewachsen, sondern benutzten auch dasselbe Paar Beine. Seine Kinder rissen die Augen auf und tuschelten kichernd miteinander. Auch seine Frau machte ein entgeistertes Gesicht.
    Lennart starrte wieder in die Manege, wo die beiden Mädchen zur Musik einer dünn besetzten Kapelle eine gewagte Jonglage mit sich drehenden Tellern aufführten. Wie machten sie das nur? Kontrollierte jeweils eine Schwester ein Bein? Wenn das so war, wie kam es, dass sie nicht hinfielen? Lennart versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, mit einem Bruderverwachsen zu sein. Es musste die Hölle sein. Er wäre selbst bei den unangenehmsten Verrichtungen des Alltags nie allein! Und was geschah mit dem einen Zwilling, wenn der andere starb? Bedeutete das zwangsläufig auch das Todesurteil für den zweiten?
    Fasziniert verfolgte Lennart die Darbietung der beiden Mädchen. Rosie und Marguerite hatten vier Arme, und damit die beiden inneren Extremitäten sie nicht behinderten, hatten sie sie sich gegenseitig um die Schultern gelegt. Mit den beiden anderen Armen vollführten sie perfekt aufeinander abgestimmte Bewegungen, die so vollständig synchron waren, als ob sie tatsächlich nur von einem einzigen Hirn gesteuert würden.
    Lennart machte es sich auf seiner Bank bequem und stopfte sich genüsslich eine Handvoll Mandeln in den Mund. Das hier war genau die Abwechslung, die er gebraucht hatte.
     
    ***

Hakon linste nervös durch den Vorhang in die Manege. Rosie und Marguerite lieferten eine hervorragende Darbietung ab. Niemand konnte sich daran erinnern, wann die Vorstellung das letzte Mal ausverkauft gewesen war. Hesekiel ließ sich von der Begeisterung so weit davontragen, dass er unentwegt von einem Dutzend weiterer Aufführungen faselte, die natürlich auch alle bis auf den letzten Platz besetzt sein würden. Hakon hingegen konnte die allgemeine Begeisterung nicht teilen. Seine Gedanken kreisten um Swann.
    Hesekiel war mit seiner Nummer als Nächster an der Reihe. Er hatte seinen sechs Schweinen rosa Tutus verpasst und gab sich als gestrenger Ballettlehrer, dem die Schüler gehörig auf der Nase herumtanzten. Es war immer Hakons Lieblingsnummer gewesen, weil sie einen ganz besonderen, hintergründigen Humor hatte und man die Tiere bereits nach kürzester Zeit wie menschliche Wesen betrachtete, die sich mit allen Tricks und Raffinessen gegen ein diktatorisches Regime wehrten. Doch heute konnte er im Gegensatz zu den Kindern im Zuschauerraum nicht über die anarchischen Kunststückchen lachen.
    Immer wieder wanderte sein Blick über die Zuschauerränge. Hakon hatte sogar seine Ohren aufgestellt und lauschte. So nannte er es inzwischen, wenn er versuchte, die Gedanken anderer zu lesen. Er wusste nicht, ob die Entfernung zu weit oder seine Gabe zu schwach war, jedenfalls fing er nur Bruchstücke auf, die kein sinnvolles Ganzes ergaben.
    Als Hesekiel unter stürmischem Beifall seine Nummer

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