Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
beendet hatte, war Nadja an der Reihe. Sie hatte sich von ihrer Lungenentzündung mittlerweile ganz erholt, obwohl noch nicht einmal eine Woche vergangen war. Hakon musste an Dr. Mersbeck und sein Medikament denken und fragte sich, was es mit diesem Mann auf sich hatte, der ihnen in Vilgrund geholfen hatte.
Seine Schwester würde an diesem Nachmittag das volle Programm absolvieren. Den Requisiten nach zu urteilen, erwartete das Publikum einiges.
Zuerst spazierte Nadja mit der Balancierstange von einem zum anderen Ende des Seils, als wärmte sie sich erst einmalauf. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, geradezu fließend. Als sie die gegenüberliegende Seite erreicht hatte, ließ sie sich von ihrem Vater ein Paar Stelzen reichen, die sie sich an die Beine band. Mit diesen etwas ungewöhnlichen Gehwerkzeugen begab sie sich auf den Rückweg. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Da war keine Unsicherheit, kein Zögern in ihrer Bewegung. Sie wusste, was sie tat, und dieses Wissen ging über den rein mechanischen Vorgang hinaus. Nadja hatte den Seiltanz, und bei ihr sah es wirklich wie ein Tanz aus, perfektioniert und verinnerlicht. Das Publikum spürte das und honorierte diese Kunst – denn um nichts anderes handelte es sich – mit Ausrufen tiefster Bewunderung.
Nadja steigerte den Grad der Schwierigkeit noch, als sie einen Tisch aufbaute, ihn deckte und sich dann auf einen Stuhl setzte, um etwas zu öffnen, was für ihre Zuschauer wie eine Flasche Wein aussah – alles mit verbundenen Augen. Natürlich trank Nadja keinen Wein, sondern Traubensaft, aber die Binde, das wusste Hakon, war absolut blickdicht.
Das Publikum raste. Nadja hängte die Balancierstange in ihre Halterung, kletterte die Strickleiter hinab und verneigte sich artig wie eine Prinzessin mit einem Knicks, wobei sie eine Blume aufsammelte, die ihr jemand zugeworfen hatte. Hakon gab einen lautlosen Pfiff von sich. Das war gut. Nein, brillant! Mit dieser Nummer war seine Schwester eindeutig der Publikumsliebling. Es würde schwierig sein, dies noch zu überbieten. Nadja gab ihm einen Kuss auf die Wange, als sie an ihm vorüberging.
»Viel Glück«, sagte sie und gab ihm die Blume.
»Ja, danke«, sagte er. »Kann ich brauchen.« Er klemmte sich den Klapptisch, das Tischtuch und die Porzellankatze unter den Arm. Dann betrat er die Manege.
***
»Unglaublich«, sagte Silvetta, als Nadja hinter dem Vorhang verschwunden war. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Dann warten wir einmal ab, was der nächste Künstler zu bieten hat«, sagte Lennart. Er amüsierte sich königlich. Nicht eine Minute hatte er bis jetzt an seine Arbeit denken müssen, und das war gut so. Er beugte sich nach vorne, damit er seine Töchter besser sehen konnte, doch die aßen noch immer geistesabwesend ihre gebrannten Mandeln.
Nun betrat ein etwa fünfzehnjähriger blond gelockter Junge in einem schwarzen Anzug die Manege. Er machte eine tiefe Verbeugung und stellte sich als Hakon vor. Lennart fragte sich, ob das wohl ein Künstlername war, doch dafür klang er eigentlich nicht schillernd genug.
Hakon führte einige kleine Tricks auf, bei denen er Eier, Münzen und Spielkarten verschwinden ließ, um dann Blumensträuße und bunte Seidentücher hervorzuzaubern. Es war nett, aber nicht sonderlich spektakulär. Das Publikum klatschte artig, aber Lennart spürte, wie die Spannung, die sich während der vorangegangenen Nummern aufgebaut hatte, abflaute.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die nächste Nummer benötige ich ein wenig Hilfe von Ihnen. Wäre jemand aus dem Publikum bereit, mir zu assistieren?« Derjunge Zauberkünstler schaute in die Runde der Zuschauer, aber keiner meldete sich.
»Keine Angst, nichts wird Ihnen zustoßen.«
Noch immer keine Meldung.
»Nun gut, wenn Sie so schüchtern sind, werde ich selber jemanden auswählen müssen.« Hakon legte eine Hand vor die Augen, während er den Finger ausstreckte und sich im Kreis drehte. Als er stehen blieb, zeigte er auf Lennart.
»Ah, wie ich sehe, habe ich nun doch einen Freiwilligen. Applaus, meine Damen und Herren.«
Beifall schwoll an und Lennart wäre am liebsten im Erdboden versunken. Hakon trat auf ihn zu und machte eine aufmunternde Geste. Lennart suchte Silvettas Blick, doch die lachte nur. Resigniert und mit hängenden Schultern stand er auf und kletterte über den Manegenrand. Die Holzspäne waren weich und gaben federnd nach.
»Mein Herr, darf ich Sie kurz dem Publikum
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