Morland 02 - Die Blume des Bösen
Machtübernahme, natürlich«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihr. Tess wirbelte herum. Nora, nun wieder eine junge Frau, gab ihr einen Kuss auf die Wange, als wären sie die dicksten Freundinnen. »Wenn es jemanden gibt, der seinen Finger am Puls der Zeit hat, dann unser bezaubernder Armand.«
»Einen wunderschönen guten Abend, Madame Blavatsky«, sagte Armand und verneigte sich leicht, ohne dabei ein süffisantes Lächeln vollständig unterdrücken zu können. »Wie ist das werte Befinden?«
»Wie immer ganz außerordentlich zufriedenstellend.« Sie hakte sich bei Tess unter und zerrte sie beiseite. »Die Gist wissen, dass die Eskatay zurückgekehrt sind. Kein Grund also, so verschwörerisch zu tun«, sagte Nora. »Wenn du den Widerstand organisieren willst, musst du geschickter vorgehen. Alleine in Morland leben vierzehn Gist. Begarell ahnt, dass sich einige direkt vor seiner Nase verstecken, aber er weiß nicht wo. Und so soll es auch bleiben. Wenn er nur einen von uns in die Finger bekäme, sähe es übel aus. Die meisten sind Alkoholiker und Drogenabhängige, und das alleine ist schon ein Drama. Doch es ist nichts gegen die Qualen, die sie erwarten, wenn er ihrer habhaft wird. Er wird vor nichts zurückschrecken, um herauszufinden, was uns von ihm unterscheidet.« Nora warf einen Blick über die Schulter und vergewisserte sich, dass auch niemand in Hörweite war. Dann lotste sie Tess zu einer kleinen Sitzgruppe, die etwas abseits hinter einem gigantischen Farn stand. »Das Problem ist, dass ihre Abhängigkeit auch Folgen in dieser Welt hat. Dir ist doch bestimmt aufgefallen, wie oberflächlich die Unterhaltungengeführt werden. Manche trinken auch hier Unmengen, obwohl sie wissen, dass der Alkohol nicht wirkt. Bevor wir auch nur irgendeinen Gedanken daran verschwenden, die Gist auf einen Kampf gegen die Eskatay einzuschwören, müssen sie erst einen klaren Kopf haben.«
Ein Kellner erschien und nahm ihre Bestellungen auf. Nora bestellte etwas, was sie einen Mint Julep nannte. Tess war sich nicht so ganz schlüssig, was sie trinken sollte.
»Das Gleiche für meine Freundin«, sagte Nora und hob zwei Finger. Der Kellner entschwand. »Das Zeug trinke ich schon, seit ich volljährig bin. Du wirst sehen, es wird dir schmecken.«
Kurz darauf erschien der Kellner mit zwei Silberbechern, in denen Eiswürfel klirrten und aus denen jeweils ein grüner Minzestängel ragte.
» Cheers , wie man bei uns zu sagen pflegte«, sagte Nora und prostete Tess zu, die erst vorsichtig an ihrem Getränk roch.
»Was ist da drin?«, fragte sie misstrauisch.
»Minze, Bourbon, Zucker und Eis. Ich musste verdammt lange experimentieren, bis der Whiskey den richtigen Geschmack hatte.«
»Da ist Alkohol drin?«, fragte Tess erschrocken.
Nora schaute sie über den Rand des Bechers hinweg an, als zweifelte sie an der Intelligenz ihres Gegenübers.
»Nicht wirklich«, gab sich Tess selbst die Antwort. »Ich vergesse immer, dass dies nur ein Traum ist.« Sie nippte daran und hob überrascht die Augenbrauen.
»Komm ja nicht auf die Idee, das in der realen Welt zutrinken«, sagte Nora mit gespielter Strenge. »Abgesehen davon würdest du nirgendwo den richtigen Alkohol dafür finden.«
»Wie willst du die anderen Gist wachrütteln?«, fragte Tess schließlich.
»Die meisten von ihnen sind drogenabhängig. Und sie nehmen mehr als nur ein Gift zu sich, um so oft und so lange wie möglich im Grand Hotel zu sein. Nun, wenn man sie nicht von ihrer Sucht heilen kann, müssen andere Mittel in Betracht gezogen werden.«
Tess verstand nun überhaupt nichts mehr.
»Lass dich überraschen«, sagte Nora, als sie das ratlose Gesicht sah. »Wir ... ich arbeite seit Längerem an einem Plan.«
»Gut, dann werde ich hinaufgehen und mich umziehen. Hast du hier auch ein Zimmer?«
Nora schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht hierher, um mich zurückzuziehen.« Sie winkte den Kellner noch einmal zu sich. »Ich werde mir die Zeit vertreiben, solange du fort bist. Such mich nicht, ich werde dich finden.«
Tess fuhr hinauf in den dritten Stock und schloss ihr Zimmer auf. Es war noch genauso, wie sie es in der letzten Nacht zurückgelassen hatte.
Im Bad rauschte das Wasser. Eigentlich hatte sie im Moment keine Lust, sich in die Wanne zu legen. Sie wollte einfach nur ein neues Kleid anziehen und sich dann auf die Suche nach dieser Helga Varnrode machen. Offensichtlich wusste sie mehr über den Tod von Tess’ Eltern, als sie in ihrem benebelten
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